Union zeigt Nerven
Minderheitenrechte im Bundestag stellen Mehrheit auf die Probe
Langsam scheint die Union im Bundestag die Geduld mit der Opposition zu verlieren. Genervt äußerte sich der Parlamentarische Geschäftsführer, Michael Grosse-Brömer (CDU), am Dienstag über deren Beharren auf vollen Minderheitenrechten, die im Bundestag an bestimmte Quoren, also Stärke der Opposition, gebunden sind - Quoren, die LINKE und Grüne im derzeitigen Bundestag mangels Masse verfehlen. Die Verhandlungen seien gescheitert, gaben Nachrichtenagenturen Grosse-Brömer am Dienstag wieder. Er rechne auch nicht mehr mit einer Einigung bei möglichen neuen Gesprächen. Ihm dränge sich »der Eindruck auf, dass ein Einigungswille der Opposition nicht vorhanden ist«.
Die reagierte verblüfft. Am Abend zuvor hatten die Mitglieder im Geschäftsordnungsausschuss noch zusammengesessen - weder Petra Sitte noch Britta Haßelmann hatten den Eindruck, dass dies die letzte Runde gewesen sein könnte. Sitte, Parlamentsgeschäftsführerin der LINKEN, teilte mit, alle Berichterstatter hätten Verständigungsbedarf, »aber auch Einigungswillen signalisiert«. Grosse-Brömers Reaktion sei »völlig unverständlich«. Sittes Amtskollegin Haßelmann stellte für die Grünen fest, man sei ja mitten in Verhandlungen, weitere Termine seien vereinbart.
Am Abend hieß es schließlich aus unbestätigten Quellen, um eine Absage an die Gespräche habe es sich bei Grosse-Brömers Bemerkungen nicht gehandelt. Als eine Andeutung, dass man an den Rand der eigenen Toleranz zu geraten droht, muss man sie denn wohl trotzdem verstehen.
Zwar hatte sich die übermächtige Koalition von Anfang an bereit erklärt, der Opposition entgegenzukommen, doch der Teufel liegt wie immer im Detail. Die Opposition besteht darauf, ihre Kontrollrechte nicht als Almosen von der Koalition zugeteilt zu erhalten, also deren Willkür unterworfen zu sein. So haben LINKE und Grüne einen gemeinsamen Gesetzentwurf eingebracht, die Große Koalition hält mit einem eigenen entgegen. Letzterer sieht eine Änderung der Bundestags-Geschäftsordnung für die laufende Wahlperiode vor, um der Opposition mehr Rechte zu geben. LINKE und Grüne verlangen hingegen Rechtssicherheit durch Gesetzesänderungen.
Im Streit um Redezeiten, Untersuchungsausschüsse, Anhörungen oder Enquète-Kommissionen war es in der letzten Woche zu einer Anhörung gekommen. Der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht, Ernst Gottfried Mahrenholz, verwies dabei darauf, dass der entscheidende Gesichtspunkt, um Klarheit über eine gerechte Verteilung von Redezeiten zu finden, die Festlegung im Grundgesetz sei, dass der Bundestag öffentlich verhandle. Hierbei zähle nicht der Wahlerfolg, der über die Stärke der Fraktionen entscheidet.
Deswegen schlägt Mahrenholz eine Sockelredezeit für alle Fraktionen und Zusatzredezeiten für die großen Fraktionen vor. Bei einer 60-minütigen Debatte würden alle Fraktionen mindestens zwölf Minuten zu Wort kommen. Die Zusatzzeit solle dann ebenfalls zwölf Minuten betragen. Bei einer Debatte von 25 Minuten soll die Sockelzeit entsprechend fünf und die Zusatzzeit ebenfalls fünf Minuten betragen. Damit würden sich die Redezeiten gegenüber dem Vorschlag der Koalition deutlich erhöhen.
Zu keinem Zugeständnis ist die Große Koalition bisher bei Normenkontrollklagen bereit, mit denen die Opposition Gesetze vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen kann. Diese Möglichkeit ist an ein 25-Prozent-Quorum im Bundestag gebunden, das LINKE und Grüne gemeinsam nicht erreichen. Die Analyse von Mahrenholz ist Wasser auf die Mühlen der Oppositionsparteien. Er sieht keinen Grund, der Fraktion das Recht auf eine Normenkontrollklage vorzuenthalten. »Heute, im 65. Jahr des Grundgesetzes gehört die verfassungsrechtliche Sensibilität auf allen Seiten des Bundestags zu den bestimmenden Impulsen der parlamentarischen Arbeit.«
Der ehemalige sächsische Verfassungsrichter Hans-Peter Schneider hält den Zugang zur abstrakten Normenkontrolle für verfassungsrechtlich geboten. Allerdings müsse dann auch das Grundgesetz geändert werden. Dort könnte festgelegt werden, dass auch alle Mitglieder von Fraktionen, die die Regierung nicht tragen (parlamentarische Opposition) dieses Recht erhalten. Dass alle Oppositionspolitiker einem entsprechenden Antrag zustimmen müssten, stelle bereits eine sehr hohe Hürde dar, so Schneider.
Weitere Minderheitenrechte, wie etwa die Einberufung des Bundestags, sollten in einem förmlichen Oppositionsgesetz verankert werden, dessen Geltung zeitlich befristet werden könnte. Eine Änderung der Geschäftsordnung, wie sie die Große Koalition anstrebt, reicht laut Schneider nicht aus. Denn der Bundestag kann im Einzelfall mit Zweidrittelmehrheit von allen Vorschriften der Geschäftsordnung abweichen, also auch von den angestrebten neuen Oppositionsrechten.
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