Mit 80 Prozent glücklich sein
Skispringer Sven Hannawald lernte aus seinen psychischen Problemen viel für sein Leben
nd: Wann standen Sie das letzte Mal auf einer Schanze und nahmen Kurs auf die Anlaufspur?
Hannawald: Der letzte offizielle Sprung war im Februar 2004 in Salt Lake City zum Weltcup. Danach habe ich die Saison vorzeitig beendet. Im November bin ich für mich selbst noch einmal gesprungen, weil ich nicht wusste, ob ich aufhören soll oder nicht. Ich wollte noch einmal spüren, wie es sich anfühlt. Das war das letzte Mal.
Sie waren in Ihrem Sport derart erfolgreich, dass man Sie heute immer noch mit erwähnt, wenn über die Leistungen Ihrer Nachfolger berichtet wird. Warum hat Sie das nicht stark gemacht, sondern krank?
Für den Erfolg braucht es gewisse Vorleistungen. In meinem Fall hieß das, Gewicht zu reduzieren. Da lebt man jahrelang an einer gewissen Grenze. Der Körper hatte keine Reserven mehr, musste aber immer wieder mit dem Stress fertig werden.
Wann merkten Sie das erste Mal, irgendetwas stimmt nicht?
Bei der Skiflug-Weltmeisterschaft 2002 in Harrachov verletzte ich mich und musste drei Monate ruhen. Als ich dann wieder anfing, spürte ich eine innere Unruhe, die man nicht auf zu viel Training oder zu wenig Mineralstoffe zurückführen konnte. Sie ließ sich nicht überwinden, sondern höchstens mal in den Hintergrund schieben. Diese Unruhe ist immer stärker geworden. Mit dem Wissen von heute hätte ich das Problem vielleicht einkreisen und weiter springen können. Aber damals hieß es nach jedem Arztbesuch nur: Alles bestens, alles fit. Aber das stimmte nicht.
Verlangte Ihnen der Sport zu viel ab?
Ich würde das nicht auf den Sport beziehen, sondern eher auf meinen Perfektionismus. Vielleicht hätte ich das Gleiche erlebt, wenn ich eine Firma gegründet hätte, weil ich immer alles hundertprozentig machen möchte.
Aber im Sport steht man im Rampenlicht. Gesteht man sich da nicht eine psychische Krankheit noch schlechter ein als anderswo?
Für mich war es damals kein Thema, ob das jetzt die Runde macht, dass ich in die Klinik muss, weil ich ein Burn-out-Syndrom habe. Das war mir völlig egal. Meine Priorität war, so schnell wie möglich fit zu werden, damit ich wieder springen kann.
Was Ihnen allerdings nicht gelungen ist ...
Als ich 2004 in die Klinik für Psychosomatische Medizin in Bad Grönenbach ging, war mir nicht klar, was die Zukunft bringen wird. Ich war froh, dass ich nach so langer Zeit endlich bei einem Arzt gelandet war, der mir sagen konnte, was mit mir los ist: innere Leere, körperliche und psychische Erschöpfung. Kurz gesagt: Burn-out. Bis dato hatte ich nicht gewusst, dass das eine ernste, höchst komplizierte Erkrankung ist. Ich wollte mich ausruhen und dann wieder loslegen. Aber während einer solchen Zeit lernt man. Ich habe gelernt, meiner inneren Stimme zu vertrauen. Die signalisierte eines Tages: Das funktioniert nicht mehr mit dieser Art von Sport. Die Situation war extrem schwer. Am Anfang konnte ich mir nie Skisport im Fernsehen anschauen.
Das geht aber jetzt wieder?
Es ist super, ich bin gern bei Wettkämpfen vor Ort, schwelge in Erinnerungen und freue mich für die erfolgreichen Aktiven. Und es ist einfach schön, das mitzuerleben, weil ich auch stolz bin, dass ich das selber machen konnte.
Denken Sie, Ihr psychischer Zusammenbruch wäre mit rechtzeitiger Hilfe zu verhindern gewesen?
Mit dem Wissensstand von heute vielleicht. Deswegen habe ich ja mein Buch geschrieben, um Menschen von meiner Geschichte etwas mitzugeben. Schließlich haben nicht nur Sportler psychische Probleme. Bei über 30 Veranstaltungen, auf denen ich mein Buch vorgestellt habe, kamen Menschen aus allen möglichen Lebensbereichen mit ähnlichen Problemen auf mich zu. Viele sagten, dass ich ihnen aus der Seele spreche.
Was bewegt Sie, beim Männergesundheitskongress aufzutreten?
Der Einladung bin ich gern gefolgt. Ich bin ein Mann, der eine psychische Krankheit hatte und ich sage nicht, es war halb so schlimm. Ich stehe dazu, wie es war. Und vielleicht ist das auch Ausdruck eines Umdenkprozesses unter den Männern. Die müssen nicht immer die Harten spielen. Es ist hilfreicher, ein Problem einzugestehen und danach gestärkt zurückzukommen, als darüber hinwegzugehen.
Sind Sie jetzt jemand geworden, der alle Vorsorge in Anspruch nimmt und sich in Sachen Gesundheit ganz korrekt verhält?
Ich laufe nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt, aber ich mache meine Vorsorgeuntersuchungen, ohne viel darüber nachzudenken. Wer nicht auf seine Gesundheit achtet, kann im Krankheitsfall schlechter dran sein. Und ich möchte natürlich das Leben lange genießen und nicht wegen eines versäumten Arztbesuches eine Krankheit erst entdecken, wenn sie nicht mehr zu bekämpfen ist.
Würden Sie ausschließen, dass Sie erneut psychisch krank werden?
Ja, das schließe ich aus.
Tatsächlich?
Ja, weil ich definitiv aus meinen Erfahrungen viel gelernt habe. Ich kann jetzt bei irgendwelchen Sachen, die auf mich zukommen, sicherer entscheiden. Bin ich nur etwas aufgeregt, weil ich eine Sache zum ersten Mal mache oder macht sich die gleiche Unruhe breit, die mir schon einmal im Leben gesagt hat: Du, das ist zu viel? Da höre ich auf mein Gefühl und gestalte meinen Alltag dementsprechend. Ich will nicht wieder schweißgebadet aufwachen und denken: Wie soll ich denn das schaffen? Alles, wobei ich den Eindruck habe, dass es zu viel wird für mich wird, lasse ich nicht mehr zu. Und damit kann ich leben. Es ist natürlich nicht schön, erst krank werden zu müssen, um den eigenen Körper besser kennenzulernen. Aber für die Zukunft ist es gut.
Dann ist man immun?
Man weiß die Anzeichen zu deuten. Ich neige dazu, mich in manche Sachen hineinzusteigern, muss dann auf die Bremse drücken. Wenn man nichts aus seiner eigenen Geschichte lernt und nach dem Gas gleich wieder Vollgas gibt, dann kann sie sich wiederholen. Ich habe gelernt, nicht überall hundertprozentig erfolgreich sein zu müssen und auch mal mit 80 Prozent glücklich zu sein. Auch die 80 Prozent können so ein hohes Level haben, dass es locker reicht. Ich weiß auch gar nicht, ob es das Hundertprozentige überhaupt gibt. Typen wie ich einer war, streben das immer an und haben keine Ruhe, wenn sie es nicht erreichen, obwohl sie sportlich trotzdem erfolgreich sind. Ich habe Wettkämpfe gewonnen und konnte mich nicht freuen, weil die Sprünge nicht gut waren. Da musste ich ein bisschen umlernen. Wenn einem das gelingt, dann ist alles bestens und man lebt gesünder.
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