Ost-West-Mentalitäten überwinden
Robert Zion über die Gefahren im Ukraine-Konflikt, die aus einer Politik der Schwäche resultieren
Die großen Zivilisationsbrüche in der Moderne entstanden selten aus Stärke heraus, sie entstanden beinahe immer aus Schwäche. Als die Briten und die Deutschen 1916 an der Somme und vor Verdun ihre Großoffensiven starteten, endeten diese im »Ausbluten«, im millionenfachen Massenabschlachten, da sich die militärische Defensive im Stellungskrieg gegenüber der Offensive als überlegen erwies. In jenen hundert Tagen ab dem 6. April 1994, in denen nach Schätzungen bis zu 1 000 000 und damit drei Viertel der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit massakriert wurden, befanden sich belgische UN-Truppen im Land, strikt nach dem Gesetzestext von Kapitel VI der UN-Charta eingesetzt und damit nahezu wirkungslos - deren Kommandeur nahm sich später das Leben. In Srebrenica erfolgte im Juli 1995, diesmal vor den Augen nicht weniger hilfloser niederländischer UN-Truppen, ein weiterer Völkermord.
Als sich 1999 während des Kosovo-Konflikts die Indizien für bevorstehende weitere ethnische Säuberungen verdichteten, griff die NATO im März ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates (Aufgrund der Blockadehaltung Russlands) die Bundesrepublik Jugoslawien an. Die internationale Staatengemeinschaft hat seit diesen schlimmen 90er Jahren mit einer Beseitigung der Schwächen des Völkerrechts reagiert. Ende 2005 wurde von der Generalversammlung der UN das Prinzip der Schutzverantwortung beschlossen. Damit haben alle Regierungen anerkannt, dass jeder Staat erstens verpflichtet ist, seine Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen zu schützen. Zweitens ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, Staaten grundsätzlich bei der Wahrnehmung ihrer Schutzverantwortung zu unterstützen. Wo ein Staat die Schutzverantwortung gegenüber seiner Bevölkerung nicht ausüben kann oder will, ist die internationale Gemeinschaft drittens in der Mitverantwortung, geeignete diplomatische, humanitäre und andere Mittel zu ergreifen.
Russland hat die Krim unter Verletzung des Völkerrechts annektiert. Es tat dies nicht etwa, weil ethnische Säuberungen oder ähnliches drohten, sondern aus Gründen geostrategischer Einflusszonen- und Machtpolitik. Und Putin tat dies nicht aus einer Position relativer Stärke heraus, sondern aus einer der relativen Schwäche. Dies macht die Situation in Europa gegenwärtig so gefährlich. Russlands konventionelle militärische Fähigkeit sind sehr begrenzt, seine Wirtschaft unterentwickelt und stark von internationalen Verflechtungen abhängig, die politische Lage im Inneren bestenfalls prästabil. Was Putin allein stützt, sind Russlands nach wie vor starke atomare Bewaffnung und seine fossilen Rohstoffe. Dies sind die Einsätze seines Spiels. Und auch dies macht die Situation in Europa gegenwärtig so gefährlich.
Die Europäische Union darf nun ihrerseits keine Schwäche zeigen - und damit das Gefahrenpotenzial noch erhöhen -, sich damit der ebenso offensichtlichen Einflusszonenpolitik der NATO unterwerfen, will sie nicht zum Austragungsort dieses makabren Spiels um geostrategische Einflusszonen werden. Die Anmaßungen der NATO, sich als politisches Bündnis umzudefinieren, müssen von der EU zurückgewiesen werden. Denn diese tiefe Krise ist eine Krise Gesamteuropas. Sie zwingt die EU, jetzt zu einer tatsächlich politischen Union zu werden, den bequemen Weg eines ökonomischen Interessenbündnisses unter dem Schutz der NATO jedenfalls wird sie nicht mehr einfach so weitergehen können wie bisher.
Die erste und schwierige Aufgabe einer solch sich politisch definierenden EU besteht nun darin, Russlands Verletzung des Völkerrechts zu verurteilen, sich dem globalen Spiel um Einflusszonen zu verweigern und zugleich nicht in einen harten Konflikt mit Russland hineinzugeraten. Die USA können ohne Russland in Frieden leben, die EU kann es nicht. Die Ukraine hat eine Scharnierfunktion zwischen der EU und Russland. Man darf sie nicht auf eine Seite ziehen wollen, weil sie sonst - in vielleicht blutigen Bürgerkriegen - zerbricht. Die EU, die Ukraine, Russland - dies ist Europa! Kiew, Moskau und Brüssel sollen sich daher zusammensetzen, um zu beraten, wie die Brückenrolle der Ukraine zum Nutzen und unter Beteiligung aller drei Seiten gestaltet werden kann. Dies kann im Rahmen einer Europäischen Friedenskonferenz unter dem Dach der OSZE geschehen, die bereits, unter Zustimmung Russlands, eine Beobachtermission in die Ukraine entsandt hat.
Triumph und Trauma, wie man die Mentalitäten in West und Ost nach dem Ende des Kalten Krieges und des Warschauer Paktes beschreiben könnte, dürfen nicht weiter die Triebfedern einer vielleicht einmal nicht mehr beherrschbaren Eskalationsspirale sein. Darum sollte die EU nun sowohl beim Konflikt um die Ukraine als auch beim Konflikt in der Ukraine eine andere Handlungsabfolge anstreben: Deeskalieren, Stabilisieren, Kooperieren. Wird Russland dies zurückweisen oder wird die EU einen solchen oder einen ähnlichen Weg erst gar nicht erst versuchen, steuert Gesamteuropa auf eine Phase harter Konfrontation zu. Dabei dürfte es dann nur eine Frage der Zeit sein, bis die Schwächen einer der beiden Kontrahenten eine erneute Katastrophe in Europa auslösen könnten.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.