»Wir werden einen langen Atem brauchen«
Malalai Joya über die Wahlen in Afghanistan, das Abkommen mit den USA und die Chancen progressiver Kräfte
nd: Frau Joya, in Afghanistan wird derzeit der Abzug der westlichen Besatzungstruppen vorbereitet. Jetzt finden Präsidentschaftswahlen statt. Das sind doch gute Nachrichten, oder?
Joya: Nein, leider kann ich Ihnen aus meinem Land keine guten Nachrichten bringen. Denn Tatsache ist, dass die alten Herrscher nach wie vor an der Macht sind. Es sind die gleichen alten Machthaber, die Blut an ihren Händen haben und nun sogar mit den Taliban verhandeln. Es stimmt, dass die Besatzungstruppen nun abgezogen werden sollen. Aber die Lage in Afghanistan ist sehr schlecht: die sozialen Probleme, Arbeitslosigkeit und Korruption, dazu tödliche Anschläge der Taliban. Wie kann man da von einem Fortschritt sprechen?
Was erhoffen Sie sich also von der Wahl eines Nachfolgers von Präsident Hamid Karsai?
Sehen Sie, es ist weniger eine freie Wahl als eine Auswahl aus Kandidaten der Warlords und Drogenhändler. Es wird acht Kandidaten geben, und alle haben Blut an ihren Händen. Etwa Abdullah Abdullah oder Ustad Abdul Rab Rasul Sayyaf.
Vor allem aber sind sie für die US-Regierung Garanten dafür, dass die Besatzungspolitik indirekt weitergeführt wird. Sie wollen, dass Karsai geht, um einen neuen Karsai zu installieren. Das ist der Grund, weshalb die demokratischen Parteien diese Präsidentenwahl boykottieren.
Mit den USA soll nach dem weitgehenden Abzug der Besatzungstruppen ein sogenanntes Sicherheitsabkommen geschlossen werden. Was halten Sie davon?
Ganz klar: Dieses Abkommen wird Afghanistan und seine Menschen in Sklaverei halten. Das Sicherheitsabkommen soll die militärisch-politische Dominanz der USA und der NATO in Afghanistan sichern. Dem Abkommen zufolge sollen in meinem Land neun US-amerikanische Militärstützpunkte eingerichtet werden. Zugleich soll US-Soldaten Immunität vor dem Gesetz zugesichert werden. Dabei haben wir schon jetzt zahlreiche Menschenrechtsverbrechen der Besatzungstruppen dokumentiert und angeklagt. Die USA unterhalten in mehr als 100 Staaten der Erde Militärbasen. Überall dort hat die Truppenpräsenz negative Folgen gehabt und den Menschen nicht selten schweres Leid beschert.
Sie setzen keine Hoffnungen in den bevorstehenden Truppenabzug?
Seit Beginn der Besatzungspolitik gilt: Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ist eine allgemeingültige Ausrede für jede Art von Repression und Dominanzpolitik geworden. Von Beginn an ging es darum, die Interessen der USA durchzusetzen. Deswegen wird den Menschen mit diesem Truppenabzug Sand in die Augen gestreut. Der Plan sieht doch so aus: In Afghanistan soll ein Marionettenregime eingesetzt werden, um dank gezielter und reduzierter Truppenpräsenz die Kontrolle zu behalten. Die Unterdrücker werden in dieses System eingebunden. Der Warlord Gulbuddin Hekmatyar, in den 90er Jahren zweimal Ministerpräsident, kehrt nun in die Politik zurück, und mit den Taliban wird wieder verhandelt.
Aber auch mit den Taliban muss doch eine politische Lösung gefunden werden, oder?
Ich bin nicht grundsätzlich gegen solche Verhandlungen. Die Voraussetzung aber müsste sein, dass es eine demokratisch legitimierte Führung gibt. Wir haben in Afghanistan jedoch ein kriminelles Mafiaregime. Und wenn ein solches Mafiaregime mit den Taliban verhandelt, was soll da herauskommen?
Welche Alternativen sehen Sie?
Ich habe auch hier in Deutschland dafür geworben, demokratische Kräfte in Afghanistan zu unterstützen. Die Zukunft Afghanistans liegt etwa in der Frauen- und Menschenrechtsbewegung. Die deutsche Regierung ist dieser Bitte bislang nicht nachgekommen. Solange sich da aber nichts ändert, wird die politische und militärische Hilfe des Westens die entscheidende Stütze für die herrschenden Kriegsherren sein.
Gibt es außerhalb des Parlaments eine Alternative?
Wir demokratischen Akteure werden einen langen Atem brauchen. Uns stehen die kriminellen Machthaber, die USA und die Interessen der Nachbarstaaten gegenüber. Aber es gibt Hoffnung. Je stärker die Unterdrückung wird, desto stärker wird der Widerstand. Die Solidaritätspartei, der ich nun nahestehe, hat unlängst eine Demonstration mit 2000 Teilnehmern organisiert. Es gibt Bewegungen, es gibt aber auch viel Gewalt. Wir werden weiter vorsichtig sein müssen.
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