Werbung

Als die Illusion aus allen Nähten platzte

Wie ich vor 25 Jahren zum ersten Runden Tisch in Osteuropa kam: Erinnerungen an die Wende in Polen

  • Julian Bartosz
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war einmal ein runder Tisch. Nicht der, an dem im 12. Jahrhundert der legendäre König Artus seine Ritter versammelt haben soll, um nach einem Kelch zu suchen. Die Tafelrunde, um die es hier geht, ist jüngeren Datums und der Gral, um dessen Findung sich die Teilnehmer mühten, das war die Macht ...

Nur zwei Mal, zu Beginn am 6. Februar und zum Abschluss am 5. April 1989, versammelten sich auf Plenarsitzungen 56 mehr oder weniger namhafte Personen, darunter zwei Frauen. Je eine von beiden Seiten - auf der einen Regierung und Koalition, auf der anderen die Solidarnosc-»Opposition«. Eigentlich, so meinte jedenfalls Andrzej Gwiazda, einer der Gdansker Streikführer im August 1981, habe es ja keine »Seiten« gegeben: »Da waren alle gleich.«

Etwas übertrieben ist das schon. Dass es diejenigen waren, die im Regieren wie im Opponieren zu den Eliten zählten, kann niemand bezweifeln. Von Innenminister General Czeslaw Kiszczak angeführt, stellte die »Regierungsseite« vier Minister, vier Vorsitzende der »Koalitionsparteien«, vier hohe Funktionäre der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, vier Vertreter der OPZZ-Gewerkschaft, zwei Gelehrte, zwei Rechtsanwälte etc. Der Ko-Vorsitzende Lech Walesa ließ seine Mannschaft in sehr feiner Aufstellung antreten: elf Professoren und sechs Journalisten waren vorher engste Berater der »Solidarnosc«, von der Gewerkschaft gab es fünf führende Aktivisten. Unter den über 400 Experten und Beratern, die zwei Monate lang an fünf »Untertischen« über politische, wirtschaftliche, soziale Fragen wie über Jugend- und Medienprobleme debattierten, ging es ziemlich hart zu. Da war man sich nicht so einig, wie man es während der Vorgespräche in der Regierungsvilla von Magdalenka im Herbst des Vorjahrs vereinbart glaubte.

Ich fragte mich vor 25 Jahren, warum ich als einziger Journalist aus der Provinz der »Regierungsdelegation« angeschlossen wurde und nun am Medientisch dabei sein sollte. Im politischen Streit während quasi illegaler Podiumsgespräche begegnete ich zuvor oft führenden Persönlichkeiten der »Solidarnosc« wie Kuron, Modzelewski und Pinior, und das war gewiss der Grund meiner Nominierung, die, ehrlich, ich gar nicht gewollt habe. In der von mir seit 1982 geführten Wochenschrift »Sprawy i Ludzie« in Wroclaw kritisierten wir aus linker marxistischer Sicht die Politik der Partei, die sozusagen »von einer Wand an die andere« einen, wie wir meinten, unverständlichen Zickzack-Kurs vertrat. Nach Aufhebung des »Kriegszustands« im Juli 1983 blieb die Härte gegen aufmuckende Arbeiter in den Betrieben, was auch die alternative OPZZ-Gewerkschaft nicht wesentlich zu ändern vermochte. Gleichzeitig wurde mit Beistand der Kirchenhierarchie ein seltsames »Streichel- und Schmeichelspiel« mit den intellektuellen Kreisen um die Solidarnosc-Führung getrieben. Was nun im Regierungspalast an der Krakowskie Przedmiescie vor sich ging, war zeitweiliger Höhepunkt dieser Politik. Das Volk blieb draußen.

Was mich zur aktiven Teilnahme am Medientisch dann doch motivierte, war die Zensur. Dieses Ungeheuer war Jahrzehnte lang sozusagen mein lebenserhaltender Albtraum. Die Solidarnosc-Delegation, in der ich viele vorher linientreue Kollegen sah, verlangte - außer eigenen Programmen im staatlichen Fernsehen und der Zulassung ihrer Wochenschrift, was ich legitim fand - eine Beschränkung der Zensur. Das gefiel mir überhaupt nicht. Wie ich das schon vorher als Ghostwriter für die Rede des OPZZ-Chefs Alfred Miodowicz zur Eröffnung der Plenarsitzung am 6. Februar formulierte, »brauchen die Arbeiter am meisten die völlige Freiheit des Wortes und damit auch die Liquidierung der Zensur, weil sie dessen besonders spürbar beraubt waren«. Dies sagte ich auch am »Untertisch«, was die Damen und Herren von der »Opposition« in Staunen versetzte. An sie gewandt, fügte ich hinzu: Bitte keinen Alleinvertretungsanspruch auf »Opposition« erheben, es gab sie ja auch aus linker Perspektive.

Was an den anderen, viel wichtigeren »Untertischen« verhandelt wurde, erfuhr ich damals u. a. von Jacek Kuron, mit dem ich mich fast jeden Tag in den Palastkulissen zum Palaver traf. Das war nicht besonders ergiebig. War doch von Anfang an klar, worauf das »historische Geschehnis« hinauslief: auf die Zulassung der »Solidarnosc«, auf, wie man damals schon sagte, »halbfreie« Sejmwahlen und eine - auch das war im »Regierungslager« ein geläufiges Wort - kontrollierbare Machtbeteiligung der Opposition.

Damit kommen wir zum Schlüsselwort für das Unternehmen Runder Tisch. Wer sich darauf einlässt, mit anderen die Macht zu teilen, der - hätte er Machiavelli oder Gramsci gelesen - musste darauf vorbereitet sein, die Macht abzugeben. Die damals Noch-Regierenden hofften, eine Präsidentschaft für General Wojciech Jaruzelski und die Erhaltung der »Machtsektoren« (Armee und Polizei) in den Händen der Genossen würden für eine »anständige« Gewaltenteilung genügen. Als dann noch kurz nach den Juniwahlen Adam Michnik in der von den Amerikanern finanzierten »Gazeta Wyborcza« schrieb »Euer Präsident, unser Premier«, sah man sich in diesem Glauben bestätigt.

Bald platzte aber diese Illusion, und zwar an allen Nähten. Für »das Volk«, besonders schmerzlich war die Resignation auf die am »wirtschaftlich-sozialen Untertisch« ausgehandelte Indexklausel für Löhne und Gehälter. Das war bei wild gewordener Inflation (700 Prozent) ein schwerer Schlag. Premier Tadeusz Mazowiecki, worüber sein enger Mitarbeiter Waldemar Kuczynski memorierte, erlag der Erpressung der Entsandten des IWF und der Weltbank, »den Markt« ungestört walten zu lassen. Sein Finanzminister Exgenosse Leszek Balcerowicz peitschte im aus den Juniwahlen hervorgegangenen »Kontraktsejm« seine von Jeffrey Sachs ausgearbeitete radikale Wirtschaftsreform durch. Privatisierung unter anderem der landwirtschaftlichen Staatsgüter (PGR) und tausender Betriebe ergaben eine zweistellige Arbeitslosigkeit. Die dauert bis heute und die Beschäftigung fußt derweil zu 67 Prozent auf sogenannten Drecksverträgen, die keine sozialen Sicherungen enthalten.

In einem Gespräch mit Jacek Kuron, dem im Mazowiecki-Kabinett das Arbeits- und Sozialressort aufgebürdet wurde, fragte ich 1991, wie er denn seine »Philosophie« verstehe, den Sozialbedürftigen »keinen Fisch, sondern eine Angel zu geben«. »Mensch, der Staat muss eben helfen«, lautete die Antwort. Und Kuron half tatsächlich. Auf vielen Markplätzen kochte er dicke Suppen und verteilte sie unter den anstehenden Menschen. Protestierte er etwa so gegen die eigene Hilflosigkeit?

Was das »Angeln« betrifft, gab es offensichtlich besonders begabte Fischer. Außer einer Handvoll Milliardäre bilden über 200 Multimillionäre und etwa 50 000 solcher »Mittelreicher« (Steuerklasse II - nur 19 Prozent)), die es schon zu einigen Millionen Dollar geschafft haben, den erlesenen Kreis jener, für die sich der Machtverzicht der »Kommunisten« gelohnt hat.

Kurons Weggefährte Karol Modzelewski (beide wurden für den 1964 verfassten und international kolportierten »Brief an die Partei« zweimal eingesperrt) veröffentlichte voriges Jahr unter dem von Majakowski entliehenen Titel »Wir ritten den Gaul zu Schande« eine »Abrechnung«. Als gefallener Reiter bekannte er, für den Kapitalismus wäre er nicht ins Gefängnis gegangen. »Zum Teufel mit solcher Reue«, antwortete ihm Jan Dutko in »Przeglad«. Die linken »Revolutionäre der Solidarnosc« hätten, statt gegen die »Latinisierung« Polens laut zu schreien, als verdiente Freiheitskämpfer zugeschaut, wie das Land ins neoliberale Loch gestürzt wurde. Das ist verdiente Kritik. Der Herr Professor für Geschichte des Mittelalters, Autor des Werkes »Barbarisches Europa«, lässt sich ungestört als »lebende Legende« für den Einsatz für Gerechtigkeit und Gleichheit feiern.

Legendär ist vor allem die Tafelrunde vor 25 Jahren. Ein prominenter Vertreter der anderen Seite der Barrikade, Aleksander Kwasniewski, sagte auf einer Gedenkfeier am 6. Februar, der »polnische Runde Tisch hat das Ende des alten Systems eingeläutet, der Sowjetunion den Garaus gemacht, das Tor zu Deutschlands Einheit geöffnet, die Perspektive einer breiten Integration der Europäischen Union ermöglicht«. Höher geht’s nicht.

Aus den Gremien des Runden Tisches gingen vier Staatspräsidenten hervor, sechs Regierungschefs, sechs Parlamentspräsidenten, fast hundert verschiedene Ressortchefs, fast 200 Sejmabgeordnete und nicht zuletzt die Bosse der »pluralistischen« Medienwelt.

Unsereiner, der vor einem Vierteljahrhundert so naiv war, in der staatlichen Zensur die größte Gefahr für die Pressefreiheit zu sehen, schreibt in linken Zeitschriften, die kein Geld für Honorare haben.

Der verstorbene Mieczyslaw Rakowski schrieb - Karl Marx zitierend - in seinen Memoiren, das »sozialistische Experiment« sei gescheitert, weil die herrschenden Produktionsverhältnisse nicht mehr der Entwicklung der Produktivkräfte angemessen waren. Ist es denn heute weltweit anders?

Der polnische Journalist schreibt seit über zwanzig Jahren fürs das »nd«

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: