Der Schulklub aus der 1. Liga
Estudiantes Madrid ist Spaniens Basketball-Vorzeigeklub, kämpft aber ums Überleben. Ein Besuch vor Ort
Nach einer weiteren Niederlage hallt es durch die Arena: »¡Ser de los que ganan es muy fácil!« Viel zu einfach sei es, Gewinner anzufeuern. Einmal mehr hat ihre Truppe verloren, eines dieser wichtigen Spiele um den Klassenerhalt, wie immer vor fast ausverkauftem Haus. Gut 10 000 Zuschauer kommen regelmäßig in den Palacio de Deportes in Madrid, selbst in dieser Zeit, wo es so düster aussieht. Es gehört zum Selbstverständnis der Estudiantes-Fans, den Underdog-Klub zu unterstützen.
»Wir sind eben Verlierer«, sagt Dejan Ivanov selbstironisch einige Tage danach. Der 2,05 Meter große Center sitzt auf einer leeren Tribüne, kurz bevor das Training losgeht. Gerade haben die Schulkinder das Feld verlassen, gleich sind die Profis dran. »Wir müssen uns ranhalten. Unsere Fans sind so liebevoll und treu, wir sind wie ein Familienbetrieb. Das darf nicht untergehen.« Seit einem Jahr spielt der Bulgare bei Estudiantes, Angebote hatte er von mehreren Vereinen Spaniens, der stärksten Liga Europas. »Anderswo hätte ich das Doppelte verdient«, sagt Ivanov. Das macht ihn zum Publikumsliebling von Estudiantes, was auf deutsch so viel heißt wie: Schüler.
Dieser Ursprung ist es, der den Madrider Verein zu einem legendären Anachronismus des Profisports macht: Jeden Tag, wenn die Profis zum Training kommen, steht im Polideportivo Antonio Magariños zuerst Schulunterricht an. Denn die Halle gehört zur Ramiro de Maeztu-Schule, wie auch der ganze Klub, der aus dieser erst entstanden ist und nach wie vor zu ihr gehört. Gut 65 Jahre besteht er nun, immer hat die erste Mannschaft, die sich seit jeher mit finanziell stärkerer Konkurrenz misst, in der ersten Liga gespielt. Das können außerdem nur der ungeliebte Nachbar Real Madrid sowie Joventut aus Barcelona von sich behaupten.
»Vor allem aber ist kein Klub so mit seinen Wurzeln verbunden«, schwärmt Dejan Ivanov. Nach Heimspielen drehen er und seine Mitspieler längere Runden durch die Halle, als es anderswo üblich ist. Man tauscht sich aus. Denn viele sind hier groß geworden, das Rückgrat des Klubs bildet die Schule Ramiro de Maeztu, auf deren Gelände die Profis immer schon trainierten. Anfangs, Ende der 1940er Jahre, im von General Franco regierten Spanien, war Basketball noch ein Sport für Außenseiter. Die unumstrittene Nummer eins war immer Fußball.
»Alles begann mit aufmüpfigen Schülern, die keine Lust auf Fußball hatten«, sagt Estudiantes-Präsident Miguel Ángel Míchel Bufalá, der selbst hier zur Schule ging und dem Klub seit mehr als 40 Jahren verbunden ist. »Bei Real Madrid wurde damals schon Basketball gespielt, aber auch dort war der Fußball viel größer. Viel Unterstützung gab es nicht.« Die Schüler blieben stur, stellten Körbe auf den Fußballfeldern auf und spielten auf eigene Faust. Nach und nach wurde Basketball so beliebt, dass die Fußballkurse an der Schule unweigerlich an den Rand gedrängt wurden.
Über die Jahrzehnte entwickelte sich die Schule zur wichtigsten Nachwuchsschmiede Spaniens und zu einer der bedeutendsten der Welt. Mehr als 1000 Schüler trainieren hier heute täglich, die Spitze der Leistungspyramide bildet die Profitruppe. »Durch die Schule von Estudiantes sind sie alle gegangen«, heißt es auf der Website des Basketballvereins. Tatsächlich liest sich die Liste der Graduierten wie ein »Who is who« einer der beliebtesten Sportarten auf der iberischen Halbinsel.
Da ist etwa Antonio Díaz-Miguel, langjähriger Profi und bis 1992 27 Jahre lang Trainer der spanischen Nationalmannschaft. Er war es, der das Land an die Weltspitze beförderte und als erster Spanier in die US-amerikanische Naismith Memorial Basketball Hall of Fame berufen wurde. Auch Aíto García Reneses, der mit dem FC Barcelona neun nationale Meisterschaften und den Europapokal sowie mit Spanien die olympische Silbermedaille 2008 in Peking gewann, war mal ein »estudiante.« Zahlreiche Nationalspieler kommen von hier, mehrere wurden zur National Basketball Association (NBA) in die USA transferiert, die stärkste Liga der Welt. Andere schafften es in die Topklubs der spanischen Liga, führen in Europa das Feld an.
Eines der aktuellen Talente ist der 20-jährige Aufbauspieler Jaime Fer-nández. Mit 16 Jahren kam der Madrilene an die Schule, um seine sportliche Ausbildung mit der Lehre zu vereinbaren, heute gilt er als einer der Rohdiamanten Spaniens. Auf dem Weg in die Halle versucht er, den Klub zu beschreiben: »Wer die Schule hier durchläuft und dann in der ersten Mannschaft spielt, weiß auch ohne Erfahrungen bei anderen Vereinen, dass Estudiantes einzigartig ist.« Was er damit auch meint: »Wir sind das Gegenstück zu Real Madrid.« Zwischen diesen beiden Vereinen, dem reichen Rekordmeister und dem in einem kleinen Lehrbetrieb verwurzelten Estudiantes, sei immer auch etwas Hass im Spiel. »Die haben das Geld«, sagt Fernández und lacht. »Aber wir haben Herz.«
Nur schlittert Estudiantes immer wieder von einer Krise in die nächste. Mal ist sie finanzieller Natur, mal sportlicher, und meistens hängt das Eine mit dem Anderen zusammen. »Wir machen uns große Sorgen«, sagt die Pressesprecherin Eire García. Sie atmet schwer, während sie über den Schulhof hastet, der fast ausschließlich aus Basketballfeldern besteht. Der Verein steht nicht nur in der Tabelle unten, auch die Finanzierung für die nächste Saison ist nicht gesichert. »Wenn wir absteigen, wird unser Etat viel kleiner«, sagt García. Dann werden nicht nur Starspieler wie Dejan Ivanov oder auch der junge Jaime Fernández womöglich weiterziehen. Auch die so erfolgreiche Kaderschmiede müsste wohl verschlankt werden.
Und trotzdem investiert der Verein in neue soziale Projekte, an denen er zumindest bisher kein Geld verdient. Seit 2007 ist Estudiantes der erste spanische Profiklub, der mehrere Jugendmannschaften mit intellektuellen Behinderungen unterhält. 150 Spieler mit geistiger Beeinträchtigung trainieren auf dem Schulgelände. Es sind auch diese Sportler, die in den Pausen während der Spiele statt Cheerleadern auftreten. Ab diesem Jahr startet die Nachwuchsakademie mit zwei Rollstuhlmannschaften, über die Jahre soll hier ausgebaut werden. Auch bei der Förderung des Mädchenbasketballs preschte Estudiantes voran. »Wir haben nicht viel Geld, aber wir finden, dass Sport für alle da ist. Und wenn man so fest wie wir an eine ganzheitliche Talenteförderung glaubt, findet man auch immer einen Weg, sein Ziel zu erreichen«, sagt María Luisa González-Bueno, die Vorsitzende der vereinseigenen Stiftung.
Aber was passiert, wenn die erste Mannschaft in diesem Jahr wirklich absteigt? In den vergangenen Jahren ist Estudiantes bereits auf den Abstiegsrängen gelandet, konnte nur deshalb erstklassig bleiben, weil es anderswo an der Spiellizenz scheiterte. María Luisa González-Bueno ist ernst, wenn sie daran denken muss, aber sie findet auch etwas Positives an der Gefahr. »Unsere Lehrer sagen den Schülern immer, dass sie nicht nur im Sportunterricht alles geben müssen. Wenn unsere erste Mannschaft nämlich absteigt, kann hier niemand mehr einfach durch die Ränge wachsen und Basketballprofi werden. Dann wird alles schwieriger.«
Dejan Ivanov schnürt sich die Schuhe, etwas Ironisches fällt ihm bei diesem Thema nicht mehr ein. »Die erste Liga ohne Estudiantes wäre nicht nur schlecht für den Verein oder die Stadt, sondern auch für Spanien und Europa.« Nirgends habe er eine so gute Nachwuchsarbeit erlebt wie in dieser einfachen Schule. »Auch«, grinst er dann doch wieder, »wenn die Graduierten in letzter Zeit vor allem verlieren.«
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