Authentisch bis zum Würfelzucker

Seit 20 Jahren erforscht und präsentiert der PFLUG e.V. in Wittenberg die DDR-Geschichte

  • Hendrik Lasch, Wittenberg
  • Lesedauer: 5 Min.
In Wittenberg (Sachsen-Anhalt) zeigt ein Verein im »Haus der Geschichte« den Alltag in der DDR. Das Projekt gelang trotz bescheidener Mittel und mancher Widerstände.
Feierabendbier unter den Augen des Generalsekretärs: Im »Haus der Geschichte« bemüht man sich um Authentizität und Atmosphäre.
Feierabendbier unter den Augen des Generalsekretärs: Im »Haus der Geschichte« bemüht man sich um Authentizität und Atmosphäre.

Das Dessauer Pils steht griffbereit auf dem Tresen, die »Quick-Cola« in der 0,33-Liter-Flasche ist sogar schon geöffnet. Im Schankraum ließe sich unter den wachsamen Augen des Generalsekretärs der Feierabend begießen - hätte der Wirt nicht selbst längst Feierabend: »Heute Ruhetag«, heißt es auf einem Pappschild, seit Jahren.

Tatsächlich gab es in der Schlossstraße 6 in Wittenberg einmal ein Lokal, doch das »Hackerbräu« ist längst Geschichte. Gleiches gilt für den Kindergarten, der von 1953 bis 1990 in dem Barockhaus untergebracht war. Heute hat das Gebäude nicht nur Geschichte, es lädt auch ein zur Reise in selbige. Auf den drei Etagen sind eine HO-Gaststätte samt Tanzschuppen und eine - wegen Krankheit leider geschlossene - Konsumfiliale zu besichtigen, daneben gute Stuben im Stil der 60er, 70er und 80er Jahre sowie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um das Wittenberger »Haus der Geschichte«, das seine Anfänge vor 20 Jahren hatte: Im Mai 1994, sagt Christel Panzig vom PFLUG e.V., »begannen wir mit einer ersten ABM zur zeithistorischen Forschung«.

Der Verein mit dem sperrigen Namen »Projektgemeinschaft Frauen, Landwirtschaft, Umwelt und Gesellschaft« begann damals ein Unterfangen, das unter Historikern eigentlich gängige Praxis ist - und doch unerhört war: Man ließ sich von DDR-Bürgern über deren Leben erzählen. Zum Beispiel von Technikern aus dem Stickstoff- und Gummiwerk, die gerade ihre Arbeit und zuvor ihr Land verloren hatten. Christel und und ihr Ehemann Klaus A. Panzig, die ähnliche Recherchen schon an der DDR-Akademie für Landwirtschaftswissenschaften durchgeführt hatten, dokumentierten mit den Interviews DDR-Alltag in all seinen Facetten - und hielten ihn für die Nachwelt fest. Zudem sammelten sie »Sachzeugen«: Möbel und Kleidung, Geschirr aus farbiger Plaste und Konserven mit eher tristen Etiketten - bis hin zur leeren Flasche »Quick-Cola«. Die »Sachzeugen« füllen heute die Räume im »Haus der Geschichte«. Die Besucher, immerhin 275 000 seit der Eröffnung im Jahr 1997, werden nicht mit einer bunten Anhäufung ausgedienter Alltagsgegenstände konfrontiert, sondern schauen in atmosphärisch stimmige, sorgfältig arrangierte Räume. »Hier stimmt alles«, schrieb eine Besucherin, »selbst der Würfelzucker in den Dosen.«

Allerdings, sagt der Historiker Peter Hertner, ist das Wittenberger Haus mehr als eines von inzwischen vielen DDR-Museen. Der Forscher, der in Florenz und Halle lehrte und den wissenschaftlichen Beirat im »Haus der Geschichte« leitet, verweist auf die vielen gesammelten Zeitdokumente: Interviews, Briefe, Chroniken - »eine Fundgrube für Historiker«.

Sie waren eine wesentliche Grundlage für bisher 37 Ausstellungen, in denen es um den Alltag in Wittenberg in der Vor- und Nachkriegszeit ging, aber auch um das Verhältnis der Einheimischen zu in der Region stationierten Rotarmisten, um die Integration der Umsiedler, um Arbeitsalltag und Sport, Feste und Camping. Viele der Projekte wurden in Konferenzen vertieft oder in Büchern aufbereitet. Der Verein habe »Alltagsgeschichte des 20. Jahrhunderts« geschrieben, so Hertner. »Wir haben«, sagt Panzig, »einen volkskundlichen Anspruch.« Außenstehende sahen das oft nicht so. Sie warfen dem Verein die unzulässige Verklärung der DDR vor; es gab böse Briefe und Anfeindungen. Gerade in der Lutherstadt, in der die Blicke eher 500 als 40 Jahre in die Geschichte gerichtet werden, wurde das Ansinnen des PFLUG e.V. als unpassend, sogar unverfroren empfunden. »Man musste aus dem Schatten treten«, sagt Hertner, »das hat Zeit gebraucht.« Heute ist der Widerstand abgeflaut; die Mehrheit der Bürger schätze das Haus, sagt Panzig. Sie registriert zudem mit einiger Genugtuung, dass auch die namensgleiche, vom Bund finanzierte Stiftung »Haus der Geschichte« sich in einer Berliner Filiale inzwischen dem Alltag in der DDR widmet. Das Thema ist 25 Jahre nach deren Ende offenbar salonfähig geworden. »Und wir«, sagt Panzig, »waren die Vorreiter.«

Es gibt freilich Unterschiede: Während die Bonner Stiftung über ein üppiges Budget verfügt, hangelt sich der Wittenberger Verein von befristetem Projekt zu Projekt, woran sich in zwei Jahrzehnten seines Bestehens nichts geändert hat. Die Mitarbeiter wurden stets aus Mitteln des zweiten Arbeitsmarktes finanziert; Panzig kann die Bezeichnungen für alle Anstellungsverhältnisse von ABM bis SAM herunterbeten. Sie lobt dabei die Hilfe des Wittenberger Ex-Arbeitsamtsdirektors und heutigen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, der ein verlässlicher Förderer des Hauses war, und verzweifelt an der Bürokratie des Bundesfreiwilligendienstes, über den derzeit 14 Stellen finanziert werden. Christel und Klaus A. Panzig, die den Verein aufgebaut haben, arbeiten ehrenamtlich. Wie das Haus weiter bestehen soll, wenn sich die 66-Jährige und ihr Mann zur Ruhe setzen, vermag sich niemand vorzustellen.

Immerhin: Die Stadt fördert nicht nur das Cranachhaus und andere Orte der Reformation, sondern hilft auch dem »Haus der Geschichte«. Im Jahr 2000 durfte der Verein in das stadteigene Gebäude in der Schlossstraße ziehen, zwischen Markt und Kirche. Die Betriebskosten trägt die Stadt zu einem Teil. Unterstützt wurde auch der Umbau eines Hintergebäudes, in dem jetzt eine Ausstellung über »Luther in der DDR« zu sehen ist - quasi als Bindeglied zwischen dem Haus und dem übergreifenden geschichtlichen Thema der Lutherstadt.

Viele Besucher, das legen Gästebücher nahe, nehmen das Haus indes als wohltuende Alternative zu der in Wittenberg sonst allgegenwärtigen Reformationsgeschichte wahr. Beim Verein ist man sich dieses Anspruchs bewusst. Während sich rundum alle auf die Lutherdekade und das Reformationsjubiläum vorbereiten, ist man im »Haus der Geschichte« mit den Vorarbeiten für eine Konferenz im Oktober beschäftigt - einer, wie Panzig sagt, »Zwischenbilanz« 25 Jahre nach dem Ende der DDR.

»Haus der Geschichte« in Wittenberg, Schlossstraße 6, tägl. 10 bis 17 Uhr; Tel: 03491-40 90 04; Informationen im Netz unter: www.pflug-ev.de

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