Straßenfußball braucht keine Schiedsrichter

Frauen und Männer spielen gemeinsam in Berlin

  • Oliver Händler
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
Der beeindruckendste Moment bei der Straßenfußball-WM in Berlin bleibt jedes Mal unbeobachtet. Auf dem Trainingsplatz hinter dem Stadion auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg rotten sich beide Mannschaften vor dem Spiel zusammen. Keine Trainer, keine Offiziellen, keine Kameras. Da stehen Argentinier, Deutsche, Türken oder Senegalesen gemischt in einer Traube und umarmen sich. Es scheint, als würden sie beten, doch in Wirklichkeit sprechen sie die Regeln untereinander ab. Darf der Torwart den Strafraum verlassen, zählen Tore von Mädchen doppelt? Die Jugendlichen klären das unter sich. Dazu brauchen sie keine Schiedsrichter. Fair-Play steht ganz oben auf der Agenda dieser Veranstaltung. Die Teams laufen ins Stadion die Landesflagge des jeweils anderen Teams vor sich tragend. Im Spiel geht es ziemlich zur Sache, doch wenn jemand gefoult wird, hebt der Leidtragende die Hand und bekommt sofort den Ball. Keine bösen Blicke, keine Diskussionen. Für Carla Bulacio ist dieses Gemeinschaftsgefühl auf und neben dem Platz das Wichtigste am Turnier. Sie ist die einzige Frau im Team Argentiniens - oder besser bei den »Defensores del Chaco«. Wie ihre Teamkollegen kommt sie aus den ärmsten Bezirken der Hauptstadt Buenos Aires. »Der Kontakt zu anderen Straßenfußballern und der Austausch zwischen den Kulturen steht für mich an erster Stelle«, meint die 20-Jährige. »Sogar noch vor dem Fußball.« So schauen sich alle gemeinsam Videos von den Straßenfußball-Projekten an, die über die ganze Welt verstreut sind, und tanzen zu den eingespielten Musikschnipseln aus den verschiedensten Kulturen. Zu Hause spielen noch zwei andere Frauen in ihrem Team, die waren nur leider schon zu alt für diese WM. »Es ist immer noch etwas Besonderes, in Argentinien als Frau Fußball zu spielen, obwohl sich in den letzten fünf Jahren schon viel getan hat«, erzählt Bulacio. »Vor allem, dass Frauen wie ich bei Männern mitspielen, ist immer noch sehr selten.« Im Spiel gegen Chile spielt sie von Anfang an. Ein Tor von ihr würde doppelt zählen, leider gelingt das nur ihrer Gegnerin. Dass sie als Frau durch diese Regel eine besondere Stellung einnimmt, missfällt ihr eigentlich. »Ich würde lieber wie ein normales Teammitglied behandelt werden«, sagt sie. »Es ist aber immer noch ein wichtiger Teil im Anerkennungsprozess, so dass uns die Jungen in Zukunft häufiger mitspielen lassen.« In ihrer Mannschaft sei sie aber voll akzeptiert. Sie unternehmen viel zusammen, auch wenn sie hier ein eigenes Zimmer für sich hat. Mit ihren Kameraden hat sie auch das Ausscheiden der Nationalmannschaft im WM-Viertelfinale gegen Deutschland auf der Leinwand im Stadion verfolgt. »Das war irgendwie komisch, das Spiel gegen Deutschland ausgerechnet in Deutschland zu sehen und nicht in Argentinien«, erinnert sich Bulacio. »Die Leute haben mich danach so komisch angesehen, als ich in meinem Argentinien-Trikot durch die Straßen lief.« Auch ihr eigenes Spiel läuft nicht besonders gut. Chile gewinnt 3:1. Carla Bulacio wirkt danach etwas traurig, doch sie meint, sie sähe immer so aus. »Eigentlich fühle ich mich hier sehr wohl, es ist viel ruhiger als zu Hause in Buenos Aires.« Den Unterschied zwischen zwei Kulturen, zwei verschiedenen Mentalitäten hautnah mitzuerleben, sei für sie sehr interessant. Es sei alles ganz toll, sagt sie, »nur zwischenmenschlich fehlt hier etwas Wärme«. Da muss Benedikt Nerger lächeln. Als Teambetreuer übersetzt er in den Interviews. Ein wenig mehr südamerikanisch...

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