»Die Steigerung der Asylanträge ist alarmierend«
... behaupten Politiker wie der frühere Innenminister Friedrich. Von wegen! Teil 9 der nd-Serie über die Mythen der europäischen Flüchtlingspolitik
Deutschland will sich bis heute nicht von dem Dogma lösen, es sei »kein Einwanderungsland«. Asylsuchende sind hier deshalb einer ganzen Reihe diskriminierender Gesetze unterworfen. Und auch auf europäischer Ebene gehört Deutschland in Sachen Asyl zu den Hardlinern. In einer Serie in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung soll der grundlegende Widerspruch der europäischen Asylpolitik ins Licht gerückt werden: Die EU lässt sich als »Raum des Schutzes und der Solidarität« feiern, der den Opfern von Kriegen und Verfolgung Zuflucht bietet. Doch gleichzeitig tut sie alles, um zu verhindern, dass Menschen, die diesen Schutz nötig haben, ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen können.
»Die Steigerung der Asylanträge ist alarmierend« (Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am 15. August 2012)
Was ist dran?
Es ist wahr: Die Anzahl der Asylanträge steigt seit einigen Jahren wieder. Dass wie im Jahr 2013 mehr als 100.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt haben, war zuletzt im Jahr 2011 der Fall.
Immer dann, wenn die neuen Statistiken des Nürnberger Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bekannt gegeben werden, erinnert das Innenministerium daran, dass kein EU-Land in Sachen Asyl mehr Lasten tragen müsse als Deutschland. Alles andere wäre für den mit Abstand größten EU-Staat auch reichlich blamabel.
Schweden steht noch
Größenbereinigt schneidet Deutschland im Vergleich mit anderen EU-Saaten aber bescheidener ab: Je eine Million EinwohnerInnen gab es in Deutschland im Jahr 2013 1.356 Asylanträge. Das ist im EU-Vergleich nicht wenig, aber auch nicht besonders viel. In Belgien, Dänemark oder Ungarn bewegten sich die Zahlen in der gleichen Größenordnung, Schweden hatte das Fünffache zu verzeichnen. Über einen Zusammenbruch des schwedischen Gemeinwesens ist bislang nichts bekannt.
Wer wissen will, wie ein echter Flüchtlingsnotstand aussieht, sollte sich im Nahen Osten umschauen. Bald drei Millionen SyrerInnen sitzen in Lagern rund um ihre Heimat fest. Allein der Libanon, der kleinste Nachbar Syriens, hat rund 880.000 Menschen aufgenommen. In der ganzen EU hingegen baten zwischen Oktober 2013 und September 2013 nur rund 40.500 SyrerInnen um Asyl, davon 11.851 in Deutschland.
Wenn die CSU nicht auf die Wirtschaft hört
Die Kommunen hierzulande stöhnen trotzdem, weil sie nicht wissen, wohin mit den Ankömmlingen. Das haben sie sich größtenteils selbst zuzuschreiben. 1992 beschlossen Union, SPD und FDP den sogenannten Asylkompromiss. Seitdem ist ein Asylantrag nur noch möglich, wenn der oder die AntragstellerIn nicht über einen »sicheren Drittstaat« nach Deutschland eingereist ist. Als solcher gelten alle Nachbarländer – das Asylrecht wurde so erheblich eingeschränkt. Viele Städte glaubten damals nur allzu gern, die Zeiten hoher Flüchtlingszahlen seien ein für alle Mal vorbei – und schlossen ihre Asylunterkünfte. Nun heißt es deshalb: kein Platz. Doch Fluchtbewegungen lassen sich nicht auf Dauer fernhalten. Menschen suchen nach Wegen, Krieg und Elend zu entfliehen. Ein Teil von ihnen wird deshalb hierherkommen. Für sie ist es ein Notfall. Für Deutschland nicht.
Und übrigens: Dass Einwanderung kein Problem für Deutschland ist, sehen auch WissenschaftlerInnen, Wirtschaftsverbände und konservative PolitikerInnen so. Schon die 2001 eingesetzte »Süssmuth-Kommission« zur Einwanderung plädierte damals, mindestens 50.000 Menschen jährlich nach Deutschland kommen zu lassen und diese Zahl dann schnell anzuheben.28 Das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit empfiehlt gar 500.000 EinwanderInnen jährlich ab 2015.29 Und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag schaltete sich jüngst in die Debatte um »Armutszuwanderung« ein und ließ seinen Geschäftsführer erklären, die deutsche Wirtschaft brauche in den nächsten Jahren sogar 1,5 Millionen EinwanderInnen.
Die Broschüre »Flüchtlinge Willkommen - Refugees Welcome?« hat Christian Jakob verfasst, sie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist in der Reihe »luxemburg argumente« erschienen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.