»Sozialpolitische Ignoranz«

Kinderarmut, Existenzangst, Langzeitarbeitslosigkeit - Verband fordert Paradigmenwechsel der Regierung

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Paritätische Verband konstatiert in seinem sozialpolitischen Jahresgutachten eine wachsende Spaltung der Gesellschaft.

In seinem am Donnerstag in Berlin vorgestellten Jahresgutachten stellt der Paritätische Gesamtverband der Sozialpolitik der Bundesregierung ein vernichtendes Zeugnis aus. Trotz der stabilen wirtschaftlichen Lage habe sich sowohl die Zahl der in Armut lebenden als auch der vom sozialen Abstieg bedrohten Menschen deutlich erhöht, konstatierte der Vorsitzende des Verbandes, Rolf Rosenbrock. Immer größere Bevölkerungsgruppen würden sozial abgehängt. Dabei gehe es schon lange nicht mehr nur um Langzeiterwerbslose und deren Familien, sondern zunehmend um jene Millionen prekär Beschäftigter, deren Einkünfte weder für eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch für eine armutsfeste Altersvorsorge ausreichten.

Der Verband, der über 10 000 Institutionen und Träger der freien Wohlfahrtspflege vertritt, rechnet mit einer dramatischen Zunahme der Altersarmut. 2012 waren bereits rund 900 000 Ruheständler auf Grundsicherungsleistungen zum Lebensunterhalt angewiesen - 270 000 mehr als 2005. In der Politik der Bundesregierung spiele diese Entwicklung aber nicht die geringste Rolle, kritisierte Rosenbrock. Zwar begrüße man sowohl die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes als auch punktuelle Verbesserungen für einzelne Gruppen künftiger Rentner. Beides diene aber in keiner Weise dem Kampf gegen die Altersarmut. Der Verband fordert eine grundlegende Reform der Altersgrundsicherung und vor allem eine deutliche Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze, die auch für diese Sozialleistung maßgebend sind.

Als Ausdruck erschreckender »sozialpolitischer Ignoranz« wertet der Verband ferner die Tatsache, dass das Problem der Kinderarmut im Koalitionsvertrag mit keinem Wort erwähnt wird. Dabei wachsen nach aktuellen Untersuchungen fast 20 Prozent aller Kinder in armen oder armutsgefährdeten Haushalten auf. Bei Kindern von Alleinerziehenden beträgt die Quote sogar 40 Prozent. Das im Zuge der 2010 vom Bundesverfassungsgericht angeordneten Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze eingeführte »Bildungs- und Teilhabepaket« habe sich als weitgehend wirkungslos erwiesen. Es ermögliche Kindern und Jugendlichen aus armen Familien nicht einmal ansatzweise einen gleichberechtigten Zugang zu Kultur-, Sport-, Bildungs- und Freizeitangeboten, so Rosenbrock. Zudem seien die bürokratischen Hürden für die Inanspruchnahme der Leistungen enorm hoch, was sich auch daran zeige, dass bislang in keinem Jahr auch nur die Hälfte der bereitstehenden Mittel zweckgemäß verwendet werden konnte. Der Verband fordert einen Rechtsanspruch für alle Kinder und Jugendlichen auf Teilnahme an Angeboten vom Sportverein bis zur Musikschule und die Schaffung entsprechender kommunaler Infrastrukturen.

Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es laut der Studie erheblichen Handlungsbedarf: Zwar stieg die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 2008 und 2012 um über 1,3 Millionen auf 41,6 Millionen, doch der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse liegt trotz einer geringfügigen Steigerung mit 69,5 Prozent noch immer unter dem Niveau von 2000 (70,7 Prozent). Zudem hat sich trotz steigender Erwerbsquote und partiellem Arbeitskräftemangel die Langzeiterwerbslosigkeit verfestigt. Dennoch seien Programme zur öffentlichen Beschäftigung massiv gekürzt und arbeitsmarktpolitische Instrumente wie z.B. Existenzgründungszuschüsse sogar gestrichen worden, beklagte Rosenbrock. Außerdem fehlten den Arbeitsagenturen und Jobcentern aufgrund massiver Mittelstreichungen die Ressourcen, um Langzeiterwerbslose individuell betreuen und fördern zu können.

Rosenbrock machte deutlich, dass es nicht um ein paar Reparaturen im Sozialsystem gehe, sondern um einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Wer eine wachsende soziale Spaltung der Gesellschaft auf allen Ebenen tatenlos hinnehme, riskiere die Zukunftsfähigkeit des Landes, warnte er. Notwendig sei daher auch ein »steuerpolitischer Kurswechsel zurück zu einer solidarischen Finanzierung unseres Gemeinwesens«.

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