Grândola Vila Morena

Die Hymne der Revolution

  • Reinhold Andert
  • Lesedauer: 3 Min.

Mitternacht des 24. April 1974. Der katholische Rundfunk Portugals sendete zweimal hintereinander ein und dasselbe Lied: »Grândola Vila Morena«. Es war das verabredete Zeichen. Die Kasernentore öffneten sich. Soldaten rückten aus und besetzten die Schaltstellen der Macht. Auf den Straßen Lissabons wurden sie jubelnd begrüßt. Nelken schmückten Uniformen und Gewehre. Die »Nelkenrevolution« beendete in Portugal die faschistische Diktatur.

Seitdem ging dieses Lied »Grândola Vila Morena« um die Welt und sein Schöpfer José »Zeca« Afonso wurde berühmt. Noch heute hört man es bei Streiks, auf Demonstrationen und Massenkundgebungen rund um den Erdball. Aber alle, die dieses Lied singen oder auch nur mitsummen, denken dabei weniger an die Worte. Sie scheinen auf den ersten Blick eher banal zu sein, haben aber eine poetische Naivität, Voraussetzung für eine breite Wirkung. In diesem Lied heißt es: »Grândola, du sonnige Stadt,/ hier trifft man an jeder Ecke einen Freund, in jedem Gesicht Gleichheit./ Im Schatten einer Eiche, die ihr Alter nicht kennt, leisten wir den Schwur von Grândola.«

Diesem Text ist ein schwerfälliger Marschrhythmus unterlegt. Darüber erhebt sich eine Melodie, die, wie ich las, uralten Wechselgesängen portugiesischer Landarbeiter entlehnt ist. José Afonso hatte dieses Lied bereits zehn Jahre zuvor geschrieben. Es war außerhalb Portugals unbekannt. Erst als Fanal eines Umsturzes ging es um die Welt, und zwar als Sinnbild für »Raus aus den Kasernen und die Schaltstellen der Macht besetzen«, für den Kampf gegen jede Art von Faschismus, für den Kampf um eine bessere Welt.

Bisher wurde bekanntlich aus solch einer besseren Welt noch nichts. Weder 1974 in Portugal noch später in irgendeinem anderen Land der Welt. Damals glaubten wir allerdings, wenn ich mich recht erinnere, Portugal auf dem Weg zum Sozialismus. Dabei hätten wir es besser wissen können: Der Faschismus in Portugal und Spanien war den internationalen Eliten lästig geworden. Er störte beim Erreichen des Maximalprofits und deshalb wurde eine »Revolution« erlaubt. Genauso erlaubt und organisiert wie ein halbes Jahr zuvor die Konterrevolution, der faschistische Putsch in Chile.

Ein Jahrhundert brachte bisher nur vier bis fünf Lieder hervor, die die Zeiten überdauerten. Sie wurden zu Volksliedern und blieben im Gedächtnis der Menschheit. Im letzten Jahrhundert entstanden wahrscheinlich ein paar mehr, so etwa: »We shall overcome«, »Guantanamera«, »Spaniens Himmel«, »Die Moorsoldaten« oder »Sag mir, wo die Blumen sind«.

»Grândola Vila Morena« wird ganz sicher dazugehören. Nicht nur wegen seiner eindringlichen Melodie oder seines schlichten poetischen Textes. Es wird bleiben als Symbol für die uralte Sehnsucht und den Kampf der Menschen für eine friedliche Welt und ein Leben in Gerechtigkeit und Würde.

Unser Autor, Liedermacher und Philosoph, war von 1966 bis 1973 Mitglied des legendären Oktoberklubs.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.