Vater Yozgat sucht weiter nach Gerechtigkeit

Yücel Özdemir über die Gefühle von Opferangehörigen im NSU-Prozess

  • Lesedauer: 4 Min.

Der Prozess gegen Mitglieder und Helfer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) vor dem Oberlandesgericht München jährt sich am 6. Mai. Obwohl schon so viele Zeugen gehört wurden, bleibt der Prozess ohne ersichtliche Fortschritte. Immer wieder steht der hessische Verfassungsschutzmann Andreas Temme, der beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé praktisch dabei war, im Mittelpunkt. Obwohl er bereits fünf Mal vernommen wurde und trotzdem alles im Dunkeln lässt, bewahrt der Vater des Ermordeten Ismail Yozgat seine Hoffnung, dass der Mord an seinem Sohn doch noch aufgeklärt wird.

Ismail Yozgat ist ein leidender Vater. Man sieht ihm dies auch sofort an, wenn er den Verhandlungsraum betritt. Manchmal ruft er sein Leid der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ins Gesicht, manchmal auch dem Zeugen Temme. Wann immer er kann, fordert er »Gerechtigkeit«. Nach jeder Gerichtsverhandlung sagt er zu Journalisten: »Am Ende wird was herauskommen. Ich vertraue dem Richter.«

Für ihn ist jede Fahrt von Kassel nach München eine Hoffnung auf die Antwort nach der Frage, wer der Mörder seines Sohnes ist.

Das Leid des Ehepaares Yozgat ist nicht von der Art, die man leicht ertragen oder gar vergessen kann. Damit der 21-jährige Sohn einen Weg aus der Arbeitslosigkeit finden sollte, hatten die Eltern alle ihre Ersparnisse für ihn in ein Internetcafé investiert. Vater, Mutter und Sohn arbeiteten abwechselnd darin in Schichten. Am 6. April 2006 gingen Vater und Mutter Yozgat in die Stadt, um ein Geburtstagsgeschenk zu besorgen. Als sie um 17 Uhr 01 wieder im Internetcafé ankamen, fanden sie ihren Sohn hinter dem Tresen am Eingang, überall war Blut. Sie schrien um Hilfe. Kunden, Nachbarn und Passanten kamen angelaufen. Aber es war zu spät. Halit zu retten, war nicht mehr möglich.

Nach Polizeiangaben wurde Halit Yozgat am 6. April 2006 zwischen 16.53 und 17.01 Uhr durch zwei maskierte Menschen mit einem gezielten Kopfschuss getötet. Die Mordwaffe ist bekannt: eine Ceska 83. Zwei Tage zuvor wurde Mehmet Kubasik in Dortmund mit der gleichen Waffe ermordet. Nach ersten Ermittlungen gab die Polizei bekannt, dass sich in dem Internetcafé zur Tatzeit nicht fünf, sondern sechs Menschen befanden. Die sechste Person verließ sofort nach dem Mord das Café.

Die Polizei fand heraus, dass die sechste Person Andreas Temme, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Hessen, war. Er wurde am 21. April 2006 vernommen. Zunächst gab Temme an, nicht am Tatort gewesen zu sein. Als später Beweise vorgelegt wurden, war er gezwungen, seine Anwesenheit am Tatort zuzugeben. Seine Aussagen sind voller Widersprüche.

In der 106. Gerichtsverhandlung Mitte April wurden Temme und Vater Yozgat zum ersten Mal miteinander konfrontiert. Vater Yozgat schrie alles, was in ihm wühlte, im Gerichtssaal heraus. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl schritt ein.

Temme war, so erzählt Vater Yozgat, Stammgast. Mindestens zwei Mal in der Woche war er im Internetcafé. Er kam stets alleine, nur einmal war eine Frau bei ihm. Meist blieb er rund zwei Stunden.

Zwischen Temme und der Familie entwickelte sich eine gewisse Nähe. Oft spendierte die Familie ihm einen Tee oder Kaffee. Was Wunder, dass es aus dem Vater des Ermordeten herausbrach: »Erinnerst du dich nicht einmal an den Tee, den wir dir spendiert haben, Temme?!«

Auf sämtliche Fragen, die der wütende Vater stellte, antwortete der Zeuge Temme mit »kann sein« oder »ich erinnere mich nicht«.

Dass der Mord von Temme begangen wurde, glaubt niemand. Aber ob er in Verbindung mit den Mördern stand, ob er eine Rolle bei der Planung spielte, ist das große Geheimnis.

Halit Yozgat ist das jüngste und vermutlich letzte Opfer des NSU, das ausländische Wurzeln hatte. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass Temme sich zur Tatzeit am Tatort befand und dass Halit das letzte Opfer war? Leider kümmert sich das Gericht nicht um diese Frage. Denn wenn es einen Zusammenhang gibt, ist es wahrscheinlich, dass Temme auch über die anderen Morde Informationen besitzt.

Seit einem Jahr kommt Ismail Yozgat von Kassel nach München. Er sagt: »Ich werde bis zum Ende weiter suchen.«

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