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Zehn rasch verflogene Jahre
László Andor über eine Dekade EU-Zugehörigkeit von Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern
Die Osterweiterung am 1. Mai 2004 hat die Tore der EU für zehn Länder geöffnet. Von diesen Staaten hatten zu diesem Zeitpunkt die vier Vise᠆grad-Staaten, die drei Länder des Baltikums und ein exjugoslawischer Staat einen 15 Jahre währenden Übergang zur Marktwirtschaft hinter sich. In der ersten Hälfte der 90er Jahre war das Einkommen dieser Länder gemessen im Bruttoinlandsprodukt um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen. Polen erreichte das Einkommensniveau von vor der Wende als erstes Land wieder, im Jahr 2000 war es in Ungarn, bei den anderen Ländern erst später so weit.
Die Erfahrung der »Großen Transformation«, die vor einem Vierteljahrhundert begonnen hat, bestimmte in hohem Maße, was die Bürger der neuen Mitgliedsstaaten vom EU-Beitritt erwarteten: stabiles und nachhaltiges Wachstum. Zusammengenommen kann für die Region für die letzten zehn Jahre tatsächlich von einem Trend zum Aufholen gesprochen werden.
Die ursprünglich (1957) aus sechs Staaten bestehende Gemeinschaft hatte schon vor der Osterweiterung neun weitere Länder aufgenommen. Doch war die Erweiterung von 2004 anders geartet, weil in diesem Fall zwischen den neuen Mitgliedsstaaten und den alten ein bedeutender Einkommensunterschied bestand. Deshalb fließt das Kapital in bestimmendem Maße von West nach Ost, während die Arbeitskräfte sich von Ost nach West bewegen.
Obwohl die Einwanderungsländer von der Migration wirtschaftlich eindeutig profitieren, ist dort eine Art »Wohlstandschauvinismus« zu beobachten, aufgrund dessen die öffentliche Meinung gegen EU-Migranten gerichtet ist. So manchem fällt es schwer, die Tatsache zu verdauen: Mit der Osterweiterung haben sich nicht nur Länder und Märkte der EU angeschlossen, sondern auch Menschen - und noch dazu mit gleichen Rechten.
Die wirklichen Risiken der Migration von Ost nach West sind nicht in den Empfänger- sondern in den Entsendeländern zu verorten. Ein bedeutender Teil der Arbeitnehmer, die aus Mittel- und Osteuropa abwandern, sind überqualifiziert für die Arbeitsplätze, auf denen sie sich wiederfinden. Dies galt im Jahr 2012 für etwa die Hälfte der Migranten mit Hochschulbildung, die aus den Osterweiterungsländern stammen. In bestimmten Beschäftigungssektoren, so insbesondere im Gesundheitswesen, führt die Abwanderung der Hochqualifizierten in den Herkunftsländern zu ernsten Spannungen. Zugleich aber werden die Risiken und Verluste, die durch die Abwanderung entstehen, zu einem guten Teil durch die Rücküberweisungen nach Hause kompensiert. Diese machen im Falle zweier baltischer Länder drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Bulgarien sogar vier Prozent aus.
Die Osterweiterung, die 2004 und 2007 vonstattenging, hat die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb der EU de facto verdoppelt, und der Unterschied im Einkommensniveau wird diese Mobilität auch auf lange Sicht aufrechterhalten. Allerdings darf dies nicht als automatischer Zusammenhang betrachtet werden, der von allen anderen Faktoren unabhängig ist. So besteht beispielsweise zwischen der Tschechischen Republik und dem benachbarten Deutschland ebenfalls ein Einkommensunterschied, und dennoch wandern aus Tschechien nur wenige Menschen ab. Eine Rolle spielt dabei ganz offensichtlich die Tatsache, dass in Tschechien trotz des wesentlich niedrigeren Bruttoinlandsproduktes das Ausmaß der Armut etwa dasselbe ist wie in Deutschland.
Die Frage des Auswegs aus der Armut ist in mehreren Osterweiterungsländern mit der Lage der Romabevölkerung verbunden. Zwar gibt es auch in einigen älteren EU-Ländern, so etwa in Spanien, eine bedeutende Minderheit der Roma, doch im Wesentlichen wurde die Frage der Integration der Roma durch die Osterweiterung in die EU hineingetragen. Nicht alle Roma sind arm, aber in Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei klafft zwischen der Minderheit der Roma und der Mehrheitsbevölkerung, was Ausbildung, Beschäftigung, Gesundheitszustand und Wohnverhältnisse betrifft, ein Abgrund. Die ständig reproduzierten Vorurteile und der offene Rassismus, der in vielen Fällen auch politisch unterstützt wird, behindern die Überwindung und oft sogar die Vermessung dieser Kluft.
Es lässt sich daher sagen, dass sich die meisten Osterweiterungsländer, ungeachtet der gemessen am Bruttoinlandsprodukt hier rascheren, dort langsameren Konvergenz, eher nach der Art einer inneren Peripherie entwickelt haben. Dieser Umstand, also dass diese Region systematisch von Merkmalen geprägt ist, die sie vom Zentrum der EU unterscheiden, lässt sich anhand weiterer Beispiele illustrieren, etwa durch einen Blick auf die Arbeitsverhältnisse. Was den Grad der Organisierung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer betrifft, so zeigen sich nämlich große Unterschiede zwischen Ost und West. Dies wiederum stellt für die Wirtschaftspolitik eine ständige Versuchung dar, die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der Arbeitnehmer zu verbessern. Ernsthafte Fortschritte im Bereich der beruflichen Bildung und der Innovationsfähigkeit waren in den Osterweiterungsländern eher nur im Zusammenhang mit einzelnen ausländischen Investitionen zu beobachten.
Eine Voraussetzung dafür, dass die Potenziale des Wirtschaftswachstums in Mittel- und Osteuropa besser ausgeschöpft werden könnten, bestünde darin, dass die Regierungen ihre Rolle in der Entwicklung des Humankapitals überdenken und größeres Gewicht darauf legen, in diesen Faktor zu investieren. Wenn das zweite Jahrzehnt der Mitgliedschaft spürbare Verbesserungen für die Gesellschaft bringen soll, dann sind im Bildungs- und Gesundheitswesen und auf dem Gebiet der sozialen Integration, wo bislang eher Einsparungspolitiken den Ton angaben, neue Investitionen nötig. Diese Präferenz muss - im Einklang mit den Empfehlungen der EU - auch im Bereich der Verwendung der Kohärenzgelder zum Tragen kommen. Der Europäische Sozialfonds beispielsweise könnte wesentlich mehr als bisher dazu beitragen, die Erwerbstätigkeit der Frauen, die jungen Berufsanfänger (durch Einführung der Jugendgarantie), die Integration der Roma, die Arbeitsmarktintegration der Menschen mit Behinderung und das aktive Altern zu fördern. Die effektivere Finanzierung diesbezüglicher Programme hängt in erster Linie vom politischen Willen in den einzelnen Ländern ab.
Schließlich gilt es noch zu erwähnen, dass Programme zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung (dort, wo es solche gibt) nicht nur mit dem Einsatz der EU-Gelder, sondern auch mit dem Fahrplan für die Währungsreformen abzustimmen sind. Die Einführung des Euro gelang im ersten Jahrzehnt in vier mittelosteuropäischen Ländern, und zwar bezeichnenderweise im Kreise der kleineren Länder. Der Preis für diesen währungspolitischen Erfolg war jedoch zum Beispiel in Lettland die Verschärfung der sozialen, und in der Slowakei die Verschärfung der geografischen Ungleichheit.
Die Fähigkeit zur finanzpolitischen Konvergenz ist eine Tugend, zugleich aber kann die aggressive »innere Abwertung«, also die Senkung von Löhnen und Staatsausgaben, in deren Folge hohe Jugendarbeitslosigkeit, Armut und Abwanderung auf den Plan treten, das Potenzial zum Wirtschaftswachstum untergraben. Die langfristige Nachhaltigkeit eines solchen Modells ist zweifelhaft. Die Suche nach Alternativen ist Aufgabe der gesamten EU, nicht nur der betroffenen Staaten.
Die große Frage des zweiten Jahrzehnts nach dem Beitritt der osteuropäischen Länder besteht für die EU - neben der Verwirklichung der Euro-Reform - darin, ob der Aufholprozess der östlichen Randzone ohne die bis jetzt zu beobachtende innere Polarisierung, beziehungsweise unter Umkehrung des letzteren Prozesses, fortgeführt werden kann. Ob die EU-Mitgliedschaft für die neuen Mitgliedsstaaten einen Erfolg darstellt, kann nicht nur am Bruttoinlandsprodukt gemessen werden. Die Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung und der Wandel der Lage der Gesellschaft sind mindestens ebenso bedeutend, wenn nicht noch wichtiger.
Die neuen Mitgliedsstaaten müssen, wenn sie für sich einen qualitativ neuen Entwicklungsweg eröffnen wollen, den echten sozialen Dialog verstärken. Wenn sich Europa auf ein erfolgreicheres, auch im weltwirtschaftlichen Vergleich wettbewerbsfähiges Modell des Interessensausgleiches zubewegt, dann kann das auch für Mittel- und Osteuropa bedeutende Vorteile bringen. Die Empfehlungen der EU zielen hierauf ab. Die Frage ist, ob der gesellschaftliche und politische Wille vor Ort vorhanden ist.
Der Text ist in einer längeren Fassung in der ungarischen Tageszeitung »Népszabadság« erschienen.
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