Kinderarmut grassiert weiter

Fast 40 Prozent aller jungen Menschen in Berlin wachsen in ärmlichen Verhältnissen auf

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 3 Min.
2013 lebten 1044 Kinder mehr in Armut als im Vorjahr. Die Landesarmutskonferenz (lak) macht dafür mangelhafte Koordination und bürokratische Verfahren in Bund und Land verantwortlich.

Jüngst veröffentlichte der rot-schwarze Senat eine Halbzeitbilanz seiner Politik von 2011 bis 2014. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Senat in dem 36-seitigen Papier mit dem Titel »Zusammen: Wachsen« seine eigene Arbeit positiv bewertet. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) schreibt, dass es in Berlin wirtschaftlich bergauf gehe und zugleich die soziale Balance gewahrt werde.

»Soziale Balance gewahrt«? Dem widerspricht zumindest die Pressemitteilung der Landesarmutskonferenz Berlin »Kinderarmut in Berlin gestiegen«. Zudem fällt auf, dass dieses Thema in der Senatsbilanz mit keinem Wort erwähnt wird. Stattdessen ist von Kindern nur im Zusammenhang mit einem Start-up-Unternehmen namens »6Wunderkinder«, im Kontext des Kitaplatzausbaus sowie der Verbesserung der Versorgung von Kindern an Grund- und Sonderschulen die Rede. Dabei hatte es im 2011 geschlossenen Koalitionsvertrag von SPD und CDU noch geheißen: »Deshalb werden die Koalitionspartner gezielt Maßnahmen ergreifen, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen mit geringen Einkünften zu ermöglichen. Dazu gehört auch die konsequente Bekämpfung von Kinderarmut.«

Das Auslassen des Themas Kinderarmut in der Halbzeitbilanz hat womöglich einen guten Grund. Denn da gibt es nichts zu loben. Wie die Landesarmutskonferenz Berlin jetzt mitteilte, ist sie nämlich gestiegen. Die lak bezieht sich dabei auf Zahlen, die der Senat unlängst selbst veröffentlicht habe. Demzufolge waren im vergangenen Jahr 171 000 Kinder unter 18 Jahren auf ALG-II-Leistungen und Sozialhilfe angewiesen gewesen, wie der Sprecher der Landesarmutskonferenz Berlin, Hermann Pfahler, erklärt. Dies bedeute einen Anstieg um 1044 in armen Verhältnissen lebenden Kindern im Jahr 2013. Der Sozialsenat war am Sonntag nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.

Pfahler stellte noch eine weitere Überlegung an: Wenn noch die erhebliche Zahl von Kindern hinzugezählt werde, deren Eltern mit ihrem Einkommen knapp über dem Sozialhilfesatz liegen, müsse davon ausgegangen werden, »dass nahezu 40 Prozent aller Berliner Kinder und Jugendlichen in Armut aufwachsen«. Auch mit Blick auf das eingangs erwähnte Versprechen der Koalitionsvereinbarung sagte Pfahler: »Dies ist ein Skandal angesichts vollmundiger Beteuerungen und Versprechungen der verantwortlichen Politiker zur Bekämpfung von Kinderarmut und der Unterstützung von armen Familien.« Konkret benannte er die »mangelhafte Koordination und bürokratische Verfahren bei den Hilfen in Bund und Land« als Ursache für diese Entwicklung (im Koalitionsvertrag der großen Bundeskoalition findet die Kinderarmut übrigens auch keine Erwähnung).

Von der in der Berliner Koalitionsvereinbarung 2011 vorgenommenen Bekämpfung der Kinderarmut sei nach der Hälfte der Legislaturperiode noch nichts zu sehen. Wie die wachsende Kinderarmut in Berlin zu bekämpfen wäre - dazu hat die 2009 gegründete und aus 60 sozialen Organisationen und Vereinen bestehende lak genaue Vorstellungen. Sie fordert unter anderem, dass finanzielle Mittel Kindern und Jugendlichen zur Verbesserung ihrer Situation direkt über eine bessere Ausstattung der Regeleinrichtungen (Kita, Schule) zu Gute kommen müssen. Die lak mahnt zudem Maßnahmen zur Integration von Alleinerziehenden in den Arbeitsmarkt an.

Elke Breitenbach, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der LINKEN im Berliner Abgeordnetenhaus, verwundern die neuen Zahlen zur Kinderarmut indes nicht. Breitenbach verwies auf die zunehmende Anzahl von prekären Arbeitsplätzen. »Das eigentliche Problem ist, dass die Leute einfach nicht von ihrer Arbeit leben können.« Dagegen helfe nur ein Mindestlohn - und zwar ohne jegliche Ausnahme. Und für Erwerbslose höhere ALG-II-Sätze.

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