Eine Rede, die nie gehalten wurde
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»Liebe deutsche Mitlandsleute, liebe Frankfurter Mitbürger, die Stadt Frankfurt hat die Nachricht, dass sie zur vorläufigen Bundeshauptstadt gewählt wurde, keineswegs mit irgendeinem Gefühl des Triumphes gegenüber anderen deutschen Städten, die ebenfalls zur Wahl standen, aufgenommen.« So hieß es in der Dankrede des Oberbürgermeisters der Main-Metropole, Walter Kolb (Foto: imago/Lindenthaler). Der Hessische Rundfunk hatte sie bereits aufgenommen, um sie am 10. Mai 1949 auszustrahlen. Doch dazu kam es nicht mehr.
Schuld war die Abstimmung im Parlamentarischen Rat zu Bonn am selben Tag. Sie endete mit einer faustdicken Überraschung. 65 Mitglieder waren stimmberechtigt. Die Zustimmung der 27 SPD-Delegierten für Frankfurt am Main galt zuvor als sicher, ebenso diejenige der beiden KPD-Vertreter sowie der hessischen und weiterer süddeutscher CDU-Abgeordneten. Am Ende sprach sich eine hauchdünne Mehrheit von 33 Parlamentarischen Ratsmitgliedern für Bonn aus.
Böse Zungen behaupteten, der Sinneswandel einiger Christdemokraten sei dem späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer zu verdanken gewesen, dessen Domizil nur wenige Kilometer rheinaufwärts der neuen Hauptstadt in Rhöndorf lag. Demnach schienen Kolbs nicht gesprochene Worte in Erfüllung gegangen zu sein, dass im Parlamentarischen Rat »nach rein praktischen und sachlichen Gesichtspunkten entschieden« worden war. Bonns Status war ein provisorischer und sollte ein provisorischer bleiben.
Am 20. Juni 1991 trat eine neue Abgeordnetengeneration zusammen, um zum zweiten Mal über die Hauptstadt der Bundesrepublik abzustimmen. Auch diesmal war es eine knappe Entscheidung. Mit 338 zu 320 Stimmen sprachen sich die Parlamentarier für Berlin aus. Von einer anschließenden Dankesrede seitens Berlins Regierendem Bürgermeister ist nichts bekannt. Wie Adenauer, der darum gebeten hatte, »dass die Zuhörer jedes Zeichen des Missfalls und des Beifalls unterlassen«, verkniff sich der Nutznießer der zweiten Hauptstadtentscheidung anschließend jedes Triumphgefühl. Walter Momper ging nach Erhalt und nüchterner Verkündung der frohen Botschaft zur Tagesordnung über.
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