Lichtenberger »Nogoera« reloaded

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 2 Min.

Otto von Bismarck, Reichskanzler und ostelbischer Großagrarier, soll über die Gegend, in der seine Besitztümer lagen, gesagt haben: »Wenn die Welt untergeht, sollte man nach Mecklenburg gehen, da passiert alles 100 Jahre später.« Wahrscheinlich tragen ihm das die Mecklenburger noch heute nach. Aber wahr ist es dennoch.

Wie schnelllebig dagegen heutzutage die Zeit ist, zeigt sich in Berlin. Nicht mehr 100, sondern nur noch acht Jahre musste man in Lichtenberg darauf warten, bis sich die Warnung des früheren Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye herumgesprochen hatte, man sollte als Ausländer bestimmte Gebiete Ostdeutschlands, wozu eben auch Lichtenberg mit seinen Nazi-Ecken zählt, tunlichst meiden, wenn einem das Leben lieb sei. Heye hatte 2006 kurz vor Beginn der Fußball-WM in Deutschland damit eine hitzige Debatte um Rassismus und sogenannte No-Go-Areas in Deutschland ausgelöst, die er vor allem in den östlichen Landesteilen verortete.

Nicht jeder der Bewohner unseres kleinen Kiezes an der Westgrenze zum als Szenebezirk verunglimpften Friedrichshain hat die Debatte damals wohl mitbekommen. Kürzlich unterhielten sich vor dem Spätverkauf in unserer Straße zwei Mitbürger beim abendlichen Gehsteigbierchen über Gott und die Welt. Die Formulierung »Gott und die Welt« ist wörtlich zu nehmen, denn wenn man den lieben langen Tag wenig zu tun hat und sich allenfalls mit dem Sachbearbeiter im Job-Center herumärgern muss, hat man viel Zeit zum Nachdenken. In diesem Sinne hat Lichtenberg einiges mit Mecklenburg gemein. Die Unterhaltung drehte sich also um dies und das - was man halt so bespricht, wenn der Tag sich dem Abend zuneigt und damit ein Anlass gefunden ist, den Vor- und Nachmittagsbierchen ein oder mehrere Flaschen Gerstensaft folgen zu lassen.

In feinstem Berlin-Idiom teilte der eine dem anderen mit, was er tags zuvor erfahren haben will: Irgendein Politiker hätte doch tatsächlich vor kurzem Lichtenberg zur No-Go-Area (ausgesprochen: »Nogoera«) erklärt. Die Bedeutung dieses Befundes entziehe sich allerdings seiner Kenntnis, aber aus dem, was man ihm erzählt habe, schließe er, dass mit »der Nogoera« nichts Gutes gemeint sei.

Worauf der Bierbruder entgegnete, er meine sich zu erinnern, schon einmal von dieser »Nogoera« gehört zu haben. So viel er wisse, sei damit gemeint, dass es Fremden angeraten werde, die Gegend östlich des S-Bahnhofes Ostkreuz zu meiden, weil man ihnen hier feindlich gesonnen sei. Man könne darob ganz froh sein, setzte er seine Rede fort, sonst würde es in Lichtenberg Verhältnisse wie in Kreuzberg geben. Das stimme wohl, meinte der Freund nach einer kleinen, mehrsekündigen Kunstpause, dann würde es hier im schönen Lichtenberg nur so von Touristen wimmeln.

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