Einmalige Ortschronik

GELESEN

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.

Rund 13 000 Einwohner zählt Fredersdorf-Vogelsdorf. Eine Gemeinde dieser Größe verfügt in der Regel über eine Ortschronik im Heftchenformat. Doch Fredersdorf-Vogelsdorf schmückt sich mit drei dicken Bänden. Bürgermeister Uwe Klett (LINKE) vermutet, dies sei einmalig in Deutschland. Damit könnte er Recht haben. Der letzte Band, gerade vorgelegt, umfasst 768 eng bedruckte Seiten, die sich der Zeit von 1933 bis 1949 widmen und auch einen Ausblick bis ins Jahr 2012 geben.

Herausgeber Manfred Kliem war es nicht vergönnt, das Erscheinen zu erleben. Er starb nach schwerer Krankheit am 5. September 2013. Kurz zuvor erhielt er aber noch die freudige Nachricht, dass die Gemeinde wieder den Druck bezahlt. Das neue Buch ist nicht zuletzt deshalb so dick geworden, weil beträchtliche Abschnitte die historische Großwetterlage bis ins Detail schildern, damit der Leser die Ereignisse im Ort richtig einordnen kann. Dabei drängt sich aber der Verdacht auf, dass die Autoren hier und da die Gelegenheit nutzten, eigene Forschungsergebnisse und Theorien zu publizieren, die eigentlich in eine Ortschronik nicht hinein gehören. So rechtfertigt der dürre Hinweise, dass 1946 der Entwurf einer Verfassung auch in Fredersdorf und Vogelsdorf diskutiert wurde, nicht einen Abriss zur Volkskongressbewegung.

Selbst fragwürdige Thesen finden Eingang, etwa zu einer Mitschuld Polens am Zweiten Weltkrieg. In solchen Fällen ist die Ausführlichkeit der Darstellung dann wieder von großem Vorteil. Denn es werden alle Quellen offengelegt, das Für und Wider wird erörtert. Der Leser kann sich immer selbst eine Meinung bilden. Misstrauisch macht beispielsweise die Beteuerung einer Familie, die ukrainische Zwangsarbeiterin sei gut behandelt worden, sie habe sich nur wegen einer Schwangerschaft umgebracht. Schließlich übte der polnische Kindesvater nach der Befreiung Rache.

Unzählige interessante Begebenheiten der Ortsgeschichte förderten die Autoren in Archiven und bei Gesprächen mit Zeitzeugen zutage. Nur Beispiele können hier genannt werden. So wurde im Juni 1937 bei Vogelsdorf der 2000. Kilometer Autobahn fertig. Doch Anwohner beschwerten sich massiv über die ihrer Ansicht nach unzureichende Entschädigung und über den Wertverlust ihrer Grundstücke. Das verstimmte die Generalbauinspektion. Der 2000. Kilometer wurde deshalb in der Nähe von Erkner feierlich eingeweiht, wo sich tatsächlich Kilometer 2025 befand.

Der Fredersdorfer Geschäftsmann Paul Bohm war Nazi. Sein Sohn Herbert aus erster Ehe mit einer jüdischen Bankiersenkelin zählte jedoch zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 und versteckte eine Adresskartei der Widerständler. Postinspektor Franz Massimo brachte im Juni 1945 mit Tatkraft und Improvisationstalent die Briefzustellung wieder in Gang. Niemand schaffte das in den Wirren der Nachkriegszeit so früh und so gut wie er. Seine eigenhändig angefertigten Behelfsmarken sind heute bei Sammlern begehrt. Nie wird es langweilig, in diesem Buch zu lesen.

Manfred Kliem: Ortsgeschichte Fredersdorf-Vogelsdorf, Dakapo Pressebüro, 768 S., 25,50 Euro

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