Rettung in der Heroin-Ambulanz
Seit elf Jahren wird in Frankfurt am Main Diamorphin an Suchtkranke abgegeben - Unkenrufe haben sich nicht erfüllt
Als die 51-Jährige das erste Mal Heroin nahm, war sie 12 oder 13 Jahre alt. Nach einer langen, schmerzvollen Drogenkarriere und erfolglosen Therapien kam sie vor zwei Jahren in die Frankfurter Heroin-Ambulanz. »Seither nehme ich kein Heroin mehr nebenbei«, erzählt die schwer suchtkranke Frau. Sie ist eine von derzeit 108 Patienten, die sich jeden Tag in der Ambulanz unter strenger Aufsicht Diamorphin (künstliches Heroin) spritzen. Damit ist die Einrichtung, sagt ihr Leiter, Chefarzt Dietmar Paul, die größte in Deutschland.
»Der Weg zur Heroin-Ambulanz hat fast 20 Jahre gedauert«, sagt die langjährige Leiterin des Drogenreferats, Regina Ernst. Dafür hätten nicht nur Steine, sondern regelrecht Felsen aus dem Weg geräumt werden müssen. Die ehemalige Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) hatte die Ambulanz schließlich mit großem persönlichen Einsatz gegen den Widerstand vieler Anwohner und Parteifreunde maßgeblich mit durchgedrückt. Auf der Basis des Modellprojekts, das außer in Frankfurt noch in Bonn, Köln, Karlsruhe, Hamburg, Hannover und München lief, beschloss der Bundestag 2009 schließlich, den Weg zur staatlichen Abgabe von künstlichem Heroin an Schwerstabhängige frei zu machen. Der Fraktionszwang war aufgehoben worden.
Nicht einmal 1000 schwerst abhängige Menschen in Deutschland kommen derzeit in die inzwischen acht Heroin-Ambulanzen, wie Paul sagt. »Wir behandeln nur einen Bruchteil der drogenabhängigen Patienten.« Berlin folgte den sieben Modellstädten erst 2013. In Stuttgart werde es voraussichtlich auch bald eine Ambulanz geben, sagt Paul. Die Voraussetzungen für die Teilnahme an der diamorphingestützten Behandlung, die die Krankenkassen übernehmen, sind streng geregelt. Die Suchtkranken müssen mindestens 23 Jahre alt und seit wenigstens fünf Jahren abhängig sein, sagt Paul. Sie müssen mindestens zwei erfolglose Therapien hinter sich haben, eine davon länger als ein halbes Jahr. Und sie müssen seelisch wie körperlich schwer krank sein: »Es ist eine Ultima-Ratio-Behandlung.«
Die von den Gegnern befürchtete Drogenszene vor der Ambulanz habe sich nicht etabliert, sagt ein Polizeisprecher. Es standen auch keine Junkies Schlange. Das Projekt laufe »ruhig und gut«, so der Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HLS), Wolfgang Schmidt-Rosengarten. »Es ist ein Projekt für Leute, die sonst vor die Hunde gegangen wären.« Suchthilfe brauche viele verschiedene Ansätze.
Die meisten Patienten kommen zweimal am Tag in die Ambulanz, manche - vor allem am Anfang - dreimal. »Je länger die Patienten da sind, desto mehr dosieren sie sich selbst runter«, sagt Paul. »Die Zahl der Patienten ist stabil. Es gibt keinen Nachwuchs«, fügt er hinzu. »Ein gutes Zeichen für die Suchtprävention.« Ob das so bleibe, wisse aber niemand. Derzeit steigt das Durchschnittsalter der Patienten und liegt bei 45 Jahren. Gut vier Jahre wird ein Schwerstabhängiger im Durchschnitt behandelt. Nur einige wenige Patienten stehen im Erwerbsleben.
Das Heroin kann nur zu ganz bestimmten Zeiten nach strengen Regeln und unter ärztlicher Aufsicht gespritzt werden. Die Patienten müssen pünktlich sein und mit einem Atemtest nachweisen, dass sie keinen Schluck Alkohol getrunken haben. Ihr Urin wird auch auf andere Rauschmittel kontrolliert. Nach dem Spritzen müssen sie 20 bis 30 Minuten warten, bevor ein Arzt entscheidet, ob sie gehen können. »Manchmal müssen wir sie länger beobachten«, sagt Paul. Auf plötzlich auftretende Unverträglichkeiten sind die Mediziner vorbereitet. »Wir haben aber keine Komplikationen mit Todesfolge.«
Drei Schwerstkranke sind 2013 jedoch an den Folgen der schweren Begleiterscheinungen ihrer Sucht - Hepatitis - gestorben. »Ohne die Hilfe in der Heroin-Ambulanz hätten sie aber die letzten fünf bis acht Jahre nicht überlebt«, sagte Paul. Zwölf Patienten konnten die Frankfurter 2013 aus der Behandlung entlassen, zwei von ihnen waren komplett abstinent.
Die Patienten werden im Haus nicht nur medizinisch, sondern auch sozial-psychologisch betreut. Sozialarbeiter helfen ihnen bei der Alltagsbewältigung und anderen Problemen. »Durch das enge Setting entsteht Beziehungsarbeit, die im Laufe der Zeit ihre Wirkung zeigen«, sagt Paul. dpa/nd
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