Vom Notzelt in die Notfallhilfe

Flüchtlingsberaterinnen kritisieren mangelnde Unterstützung der ehemaligen Oranienplatzbewohner durch den Senat

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 6 Min.
Vor rund sechs Wochen gaben die Flüchtlinge am ihr Protestcamp am Oranienplatz auf. Ihre Betreuung gemäß der Vereinbarungen mit dem Senat geht nur schleppend voran.

Ahmet sitzt im Innenhof des Hostels im Friedrichshain und lässt die Sonne auf sich scheinen. Seit der Oranienplatz Anfang April von den Flüchtlingen geräumt wurde, ist das Hostel sein Zuhause. Der junge Afrikaner, der nicht mehr als den Vornamen über sich verraten will, teilt sich mit einem Landsmann ein Zimmer. Darin hat er ein Bett, einen abschließbaren Stahlschrank, Tisch und Stuhl. »Natürlich ist das besser als auf dem Oranienplatz«, sagt der schüchterne Mann. Dort hat Ahmet, dessen Asylantrag in einem anderen Bundesland abgelehnt wurde, neun Monate lang in einem Zelt gelebt. Von der Hand in den Mund. Essen ging er in Suppenküchen oder er bekam Nahrungsspenden. »Jetzt erhalte ich 362 Euro im Monat«, sagt er.

Doch rund sieben Wochen nach Räumung des Oranienplatzes ist Ahmets Situation noch lange nicht geklärt. »Wie es mit meinem Asylverfahren weitergehen wird, konnte mir niemand sagen«, sagt er resigniert und zuckt mit den Schultern. In seinem alten Bundesland, das er nicht nennen will, war der Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden. Um der Abschiebung zu entgehen, flüchtete er letztes Jahr über Umwege auf den Oranienplatz. Die Vereinbarung, die Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) mit den Flüchtlingen knüpfte, sah eigentlich eine Einzelfallhilfe im Asylverfahren vor. Noch einmal sollte geprüft werden, ob es nicht vielleicht doch juristische Wege gibt für ein Bleiberecht, die bisher mangels Beratung übersehen wurden.

Katharina Müller von der Diakonie ist eine von 15 mobilen Flüchtlingsberaterinnen, die diese Hilfen leisten soll. »Mit der tatsächlichen aufenthaltsrechtlichen Beratung konnten wir immer noch nicht beginnen, weil der Senat zuvor noch viel politisch klären muss«, sagt sie. Für Ahmet beispielsweise, ob er sein Asylverfahren in Berlin fortsetzen kann oder ob er dazu in sein bisheriges Bundesland zurückkehren muss. Von dieser Entscheidung hängt alles ab. Beispielsweise, an welche Adresse man den Asylfolgeantrag schicken muss und ob man ihn mit einem Antrag auf sofortige Umverteilung kombinieren kann.

Auch andere Fragen sind sieben Wochen nach der Räumung des Oranienplatzes völlig ungeklärt. Die von Integrationssenatorin Kolat in Aussicht gestellten Deutschkurse haben noch nicht begonnen. Dabei hat das Abgeordnetenhaus für dieses Kalenderjahr 300 000 Euro für solche Kurse bereitgestellt. Der Senat hat im Parlament erklärt, er will das Geld durch EU-Mittel verdoppeln und vorrangig den ehemaligen Oranienplatzbewohnern Kurse anbieten. Allerdings ist er noch immer auf der Suche nach einem Träger. Das geht aus einer Antwort von Senatorin Kolat auf eine Anfrage der Grünen hervor. Grüne, LINKE und Piraten fordern den Senat auf, hier endlich aus den Startlöchern zu kommen. Ahmet ist damit noch immer zur Untätigkeit verdammt. »Ich möchte endlich arbeiten«, sagt der gelernte Maurer. Doch dass er ohne deutsche Sprachkenntnisse keinen Job findet, ist ihm klar. »Unterstützung und Begleitung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven«, etwa bei der Anerkennung ihrer beruflichen Abschlüsse gehört allerdings zu den Zusagen, die Dilek Kolat den Flüchtlingen - sehr allgemein formuliert - im Gegenzug zur Räumung des Oranienplatzes machte. Doch was soll Katharina Müller raten, wenn sie weder die aufenthaltsrechtliche Perspektive der Flüchtlinge kennt noch weiß, wie rasch er Deutsch lernen wird?

Nach der Festnahme der Flüchtlinge vor der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz kann es schon als Erfolg angesehen werden, dass bisher keiner der ehemaligen Oranienplatzbewohner abgeschoben wurde. Das wurde ihnen vom Senat auch bis zum Abschluss der erneuten aufenthaltsrechtlichen Prüfung zugesagt. Doch da alle Zusagen sehr vage sind und die Mitglieder des rot-schwarzen Senates hier nicht an einem Strang zu ziehen scheinen, kann sich das noch ändern.

Ein Mann, der mit Ahmet in dem Hostel gewohnt hat, ist durch das Land Sachsen-Anhalt bereits in Abschiebehaft genommen worden, erzählt die grüne Abgeordnete Canan Bayram. »Zwei weitere Männer haben ein Strafverfahren wegen illegalen Aufenthaltes am Hals«, ergänzt sie. Sie seien in eine Kontrolle der Bundespolizei geraten und hätten sich mit der Chipkarte ausgewiesen, die das Land Berlin ihnen bei der Registrierung als ehemalige Oranienplatzbewohner ausgestellt hat. Bayram: »Genau diese Chipkarte wurde ihnen zum Verhängnis. Denn sie waren Asylberechtigte in Italien und dürfen darum nur als Kurzzeittouristen nach Deutschland kommen. Doch durch die vom Land Berlin ausgestellte Chipkarte wurde klar, dass sie länger hier sind.« Da Italien Asylberechtigte oft obdachlos aussetzt und vielen noch 500 Euro in die Hand drückt, wenn sie in ein anderes EU-Land weiterreisen, stranden viele von ihnen in Deutschland.

Eine ebenso drängende Frage ist die gesundheitliche Versorgung der Asylsuchenden. Viele waren über Jahre auf der Flucht. Sie kamen aus verschiedenen afrikanischen Staaten, haben in Libyen gearbeitet, mit dem Bürgerkrieg alles verloren und kamen über die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa und oft viele weitere Stationen auf den Oranienplatz. Jetzt können sie endlich zur Ruhe kommen. »Da brechen Krankheiten aus, für die es bisher keinen Raum gab, sie zu kommunizieren«, sagt Katharina Müller. Das beginne bei posttraumatischen Belastungsstörungen, reiche über schwere Infektionskrankheiten bis hin zu jahrelang verschleppten Augenerkrankungen. Aber: Die Menschen haben lediglich einen Anspruch auf eine medizinische Notversorgung. Mitarbeiterinnen der Diakonie haben schon neun und mehr Stunden damit zugebracht, jemanden in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu begleiten. Ist die Notversorgung beendet, endet auch die Hilfe. Denn bisher sind die Flüchtlinge nicht krankenversichert. Müller und ihre Kolleginnen haben zwar ein Netzwerk von ehrenamtlich tätigen Ärzten aufgebaut, aber das deckt bei weitem nicht alles ab. Der Arbeitstag der Beraterinnen besteht darum all zu oft aus reiner Notfallhilfe.

»Uns suchen auch Menschen aus der besetzten Schule auf, die bisher noch aus jeglichen freiwilligen Sozialleistungen heraus fallen.« Ihr Job wäre es dann, diese zu Suppenküchen, ehrenamtlich tätigen Ärzten oder anderen Beratungsstellen weiter zu schicken. Die Erfahrung der Diakonie-Mitarbeiter ist, dass nur ein sehr kleiner Teil der Bewohner der besetzten Schule überhaupt auf der Liste des Senates steht und damit eine Perspektive in Berlin hat. Auch viele ehemalige Oranienplatzbewohner haben es nicht geschafft, sich auf die von den Flüchtlingen selbst erstellte Liste zu setzen, weiß die Grüne Canan Bayram. Die würden jetzt in der Luft hängen. »Auf der anderen Seite stehen viele Leute auf der Liste, die niemand kennt, die auch nicht in Berlin zu sein scheinen. Da wurden Fehler gemacht. Die muss der Senat dringend bereinigen«, fordert die Oppositionspolitikerin.

Die Diakonie-Mitarbeiterinnen Evi Gülzow und Katharina Müller wünschen sich dringend mehr Engagement vom Senat, damit sie nicht weiter nur Notfallhilfe leisten müssen. Diakonie-Direktorin Barbara Eschen fordert eine politische Lösung »auch für die Flüchtlinge in der ehemaligen Grundschule. Wir hoffen, dass der Senat hier eine entsprechende Entscheidung trifft.«

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