Der Herr des »kleineren Übels«
Zum Tode des ehemaligen polnischen Partei-, Regierungs- und Staatschefs Wojciech Jaruzelski
Wojciech Jaruzelski, Spross einer Adelsfamilie, die wegen der Teilnahme seines Großvaters am antizaristischen Aufstand 1863 enteignet worden war, begann sein Erwachsenenleben als braver Zögling einer katholischen Ordensschule. Später Machthaber eines »kommunistischen« Staates, beschloss er sein Leben in der Not, sich gegen den Vorwurf verteidigen zu müssen, er habe einer »Verbrecherbande« vorgestanden.
Nachdem die Deutschen Polen am 1. September 1939 überfallen und gleich danach am 17. September die »Russen« Ostpolen eingenommen hatten, flüchtete die Familie Jaruzelski nach Litauen. Von dort wurde sie nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1942 nach Sibirien verschleppt. In der Taiga erfüllte der 18-Jährige seine »Norma« als Waldarbeiter. Für seinen kranken Vater, der seine patriotische Gesinnung bereits 1920/21 im Krieg gegen die Rote Armee unter Michail Tuchatschewskis bekundet hatte, war die Arbeit zu schwer - er starb. Wojciech selbst zog sich eine lebenslang währende Augenkrankheit zu.
In die 1942 von General Władyslaw Anders aus polnischen Kriegsgefangenen auf sowjetischem Boden formierte Armee durfte Jaruzelski nicht eintreten, ein Jahr später aber wurde ihm gestattet, sich zur polnischen Armee unter Zygmunt Berling zu melden. Von einer Offiziersschule in Rjasan ging der Unterleutnant an die Front und zog als Spähzugführer vom Weichselbogen bis hin zur Elbe. Lebenslang blieb er Angehöriger des Wojsko Polskie - zuletzt als Armeegeneral i.R. Auf die Rente des Staatspräsidenten, die ihm für seine kurze Amtszeit 1989/90 in der Republik Polen zustand, hatte er verzichtet.
Wojciech Jaruzelski war ein politischer Mensch in der Armee. Sein Aufstieg in den Generalstab (1961) und zum Verteidigungsminister (1970) wurde durch eine Parteikarriere ergänzt, die ihn 1971 ins Politbüro des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) führte. Obwohl es der damalige Parteichef Władyslaw Gomulka war, der 1970 den Befehl zum Einsatz von Militäreinheiten gegen streikende Arbeiter in den Küstenstädten gegeben hatte, wurde Jaruzelski nach 1990 für die Todesopfer vor die Gerichte zitiert. Voll verantwortlich war er für die Ausrufung des Kriegszustands am 13. Dezember 1981. Mehrmals stand er deswegen vor einem Sonderuntersuchungsausschuss des Parlaments und vor der Justiz. Der Parlamentsausschuss befand, dass Jaruzelski in einer »Situation höchster Notwendigkeit« gehandelt habe. Er habe das »kleinere Übel« gewählt, gestand der General. Nicht nur einmal bat er seine Landsleute dafür um Vergebung. In zahlreichen Büchern wies er anhand von Dokumenten nach, dass in der »Breshnew-Zeit« die reale Gefahr einer sowjetischen Intervention drohte. Die Staaten des Warschauer Vertrags hätten die von der »Solidarnosć« heraufbeschworene anarchistische Konterrevolution nicht länger dulden können, wäre die Begründung gewesen. Ein Blutvergießen wäre unvermeidlich gewesen, das »schlimmste Übel« hätte sich eingestellt. Diese Auffassung vertritt heute eine Mehrheit in Polen.
In der neuen Situation, die sich durch die sowjetische Perestroika ergab, konnte Jaruzelski als Regierungschef in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen Reformprozess einleiten. Das Verfassungstribunal, ein Oberstes Verwaltungsgericht mit Zweigstellen in allen Regionen, ein Ombudsmann und ein Konsultativrat aus Wissenschaftlern verschiedener Weltanschauungen wurden per Gesetz ins Leben gerufen, mit Vertretern der immer noch illegalen »Solidarnosc« führte man monatelang Gespräche, die von den »Bruderparteien« mit Argwohn, von weiten Kreisen der polnischen Gesellschaft mit Hoffnung, aber auch mit Vorsicht und Ungewissheit begleitet wurden. Schließlich gehört zu den Verdiensten Jaruzelskis und seiner Mannschaft, den »Runden Tisch« einberufen zu haben. Dessen Bestimmungen liefen praktisch auf eine Machtübergabe an die Opposition heraus. Deren eigene Lesart lautet: »friedliche Revolution«.
Sollte es wahr sein, dass die zweifellos aus Arbeiterprotesten hervorgegangene Gewerkschaft »Solidarnosc« den »Sturz des Kommunismus« im osteuropäischen Raum eingeleitet hat, wäre dies paradoxerweise ohne Zutun des »Reformflügels« in der polnischen Partei kaum möglich gewesen. Umstritten, wie Wojciech Jaruzelski war, ist und bleiben wird, gehörte er zu den Mitgestaltern dieser geschichtlichen Episode. Im 91. Lebensjahr ist er am 25. Mai in einem Warschauer Krankenhaus verstorben. Leszek Miller, Chef des Linksbündnisses SLD, bat Staatspräsident Bronislaw Komorowski um Staatstrauer für den General. Aus der Präsidialkanzlei verlautete, die Art der Beisetzung werde mit der Familie Jaruzelskis abgesprochen. Staatstrauer solle die Nation einen und nicht teilen.
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