Nicht nur Festredner-Rhetorik
Bundespräsident Joachim Gauck und das »Wir-Gefühl«
Texte enthalten Subtexte und provozieren mehr oder weniger direkte Antworten. Das ist eine triviale Einsicht. Im Falle von Reden des Bundespräsidenten Gauck allerdings sind weder Antworten noch Folgen seiner Rede trivial - ganz im Gegenteil. In seiner Rede zur Einbürgerungsfeier am 22. Mai 2014, anlässlich des 65. Jahrestags der Einführung des Grundgesetzes, sprach Gauck vom »vielfältigen Wir« und von »einem neuen deutschen Wir«, mit dem - im Prinzip - niemand ausgegrenzt werde und das von sich aus eine »Gemeinschaft« hervorbringe. Für dieses »neue Wir« gab es Beifall von rund herum - völlig zu Recht.
Drei Monate zuvor - in seiner Rede zu Europa und zur EU am 22. Februar 2014 - reimte sich dieses »neue Wir« allerdings noch auf Anderes. Demnach beruht die »europäische Wertegemeinschaft« auf »Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität«. Auffällig war, dass Gauck dabei vage Werte und rechtlich fixierte Normen immer in einem Atemzug nannte, so als handle es sich dabei um zwei Apfelsorten. Das ist natürlich nicht der Fall. Zwar beruhen Rechtsnormen auch auf Werten, wenn auch nicht nur darauf. Werte sind aber etwas qualitativ anderes als einklagbare und allgemein durchsetzungsfähige Rechtsnormen.
Ganz unklar wird Gauck, wenn er den Begriff »Identität« ins Spiel bringt. Der ist zwar auch für ihn »schwer zu umreißen« und »vielschichtig«, aber irgendwie nützlich und allemal à la mode. Und dann wird es finster: Was eben noch »uns Europäer« auszeichnete - die Werte - das fehlt im übernächsten Satz: die »große identitätsstiftende Erzählung«. Bitte sehr: Wie kann fehlen, was gar nicht existiert? »Die eine europäische Identität gibt es genau so wenig wie den europäischen Demos, ein europäisches Staatsvolk oder eine europäische Nation«.
Die Vorstellung von »kollektiver Identität« ist halbgares Gerede. So wenig alle Goethe-Leser zu »Goethisten« werden, so wenig werden Deutschsprachige mit kollektiver deutscher Identität ausstaffiert. Beide bleiben, was sie sind: Individuen, die Goethe lesen oder Deutsch sprechen.
Man könnte Gaucks Sätze einfach als Festredner-Rhetorik abtun und vergessen. Dagegen spricht zweierlei. Erstens übersetzen konservative Deuter Gaucks Prosa gern in ihr Hardcore-Deutsch und zweitens machen politische Gruppierungen mit Gaucks Parolen Tagespolitik.
Zum Ersten: Jasper van Altenbockum, »FAZ«-Gauckdeuter von rechts, verstand den Präsidenten so: »Das neue Wir-Gefühl, das Bundespräsident Gauck (…) beschrieben hat, hieß früher wohl Nationalgefühl. Neu daran ist eigentlich nur, dass man es lieber nicht mehr so nennt. Uralt dagegen ist die Erkenntnis, dass gerade eine auf Einwanderung angewiesene Gesellschaft nichts dringender braucht als einen Minimalkonsens, ob man es nun ›Wir‹ nennt oder ›Nation‹ oder ›Grundgesetz‹.«
Alles dasselbe - das »Wir« von bierseligen Fußballfans, von ordinären Nationalisten und von Citoyens, die das Grundgesetz hochhalten? Gauck geht es wie dem Zauberlehrling: Wer »Werte« und »Normen« gleichsetzt, spurt Deutern den Weg ins Trübe.
Zum Zweiten - die politische Nutzanwendung der Gauck-Parolen durch die Partei Alternative für Deutschland (AfD). Diese bürgerliche Gruppierung übersetzt Gaucks »Wir«- und »Identitäts«-Gesang in harte wohlstandschauvinistische Forderungen für Besserverdienende hierzulande und gegen »faule Griechen« dort unten. Die AfD ist eine Sammlungsbewegung aus der radikalisierten bürgerlichen Mitte, die als »neue Volkspartei« des »gesunden Menschenverstands« auftritt, aber nur ihre Wagenburg verteidigt. Nirgendwo war die AfD erfolgreicher als in den Speckgürteln der Besserverdienenden rund um die Großstädte. Und die CDU reagiert auf das Warnsignal und will sich um die neue Klientel mehr kümmern. Auch über diese Wirkung seiner Reden könnte sich Gauck noch wundern.
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