Hinter dem Bug

Zur polnischen Sicht auf die Ukrainekrise

  • Holger Politt
  • Lesedauer: 4 Min.
Polens Sicht auf die Ukrainekrise ist von dessen geopolitischer Lage geprägt. Als Teil der EU und NATO grenzt das Land unmittelbar an die Krisenregion. Sowohl die Parteien als auch die öffentliche Meinung in Polen verteidigen übereinstimmend die territoriale Integrität der Ukraine und halten deren staatliche Unabhängigkeit für einen unentbehrlichen Faktor der politischen Ordnung in Europa. Für den Autor Holger Politt steht daher aus Warschauer Sicht die Frage nach den künftigen Möglichkeiten einer weiteren Ostausdehnung der EU auf der Agenda.

In Polen geht in der aktuellen Ukrainedebatte kaum ein Riss durch die einzelnen Parteien. Deren Meinungsbild deckt sich mit der öffentlichen Stimmung, die entschieden die territoriale Integrität des Nachbarlandes verteidigt und dessen staatliche Unabhängigkeit für einen unentbehrlichen Faktor der heutigen politischen Ordnung in Europa hält. Dementsprechend wird das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine scharf verurteilt.

Eine Diskussion, ob die Interessen gegenüber Russland nicht wichtiger seien, wird nicht geführt. Alle Versuche, die Abtrennung der Krim und deren Anschluss an Russland letztlich hinzunehmen bzw. plausibel zu machen, werden in Polens Öffentlichkeit als Kuhhandel abgelehnt. Allerdings sind sich die meisten bewusst, dass die Entschiedenheit Polens in der aktuellen Ukrainefrage das ohnehin fragile bilaterale Verhältnis zu Russland zusätzlich belasten könnte.

Über den Autor

 Dr. Holger Politt, geb. 1958, Autor und Übersetzer, Warschau.

Dabei wird eine Frage berührt, die den Kern der polnischen Ostpolitik ausmacht, denn natürlich soll aus Sicht einer großen Mehrheit in Polen die gesamte Ukraine dereinst in den Hafen der Europäischen Union einlaufen. Als vor fast genau zehn Jahren die EU mit der sogenannten Osterweiterung bis an den Bug sich vorschob, verwiesen polnische Politiker verschiedener Couleur gerne darauf, dass die EU-Osterweiterung erst abgeschlossen sei, wenn sich schließlich auch Belarus und die Ukraine in der europäischen Gemeinschaft befänden.

Diese Argumentation war wenig ausgereift. Sie folgte eher historischen Linien, die der territorialen Ausdehnung der einstigen polnisch-litauischen Adelsrepublik entsprachen, denen also andere nur schwer folgen konnten. Zunächst schien ohnehin der 2004 vollzogene gewaltige Erweiterungsschritt vielen Altmitgliedsländern noch ein großes Wagnis zu sein, dessen erfolgreicher Ausgang längst nicht absehbar sei.

Beitrittsperspektive osteuropäischer Länder

Im Laufe der nunmehr zehnjährigen EU-Mitgliedschaft hat sich in Polen die Überzeugung der Notwendigkeit einer Beitrittsperspektive weiterer osteuropäischer Länder verfestigt. Sie hat sich auch von der einseitigen Bindung an die für das aktuelle politische Geschäft weniger wichtigen historischen Linien emanzipiert. Polens Außenpolitik setzt sich gegenüber den andern EU-Mitgliedsländern geduldig dafür ein, den Ländern hinter dem Bug prinzipiell eine Beitrittsperspektive offenzuhalten.

Von entscheidender Bedeutung für die Außenpolitik Polens wurden dabei mit Georgien und der Ukraine jene beiden Länder, in denen sich zeitweise Kräfte durchsetzen konnten, die selbst eine EU- und NATO-Mitgliedschaft für möglich und erstrebenswert hielten. Andere Länder spielen da keine vergleichbare Rolle, wobei Belarus aus Warschauer Sicht eine Sonderrolle zukommt, geht man doch davon aus, dass das Land nach der Lukaschenko-Ära schnell zu einem EU-orientierten Kurs finden könnte.

Zu jenem Zeitpunkt, als man in Polen bereits von einer über den Bug hinausgehenden EU zu träumen begann, übernahm in Russland mit Wladimir Putin ein Mann die politische Macht, der die Entwicklungen in Osteuropa seit Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 anders interpretierte. Er nannte die Auflösung der Union einen Zusammenbruch und bezeichnete den als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts . […]

Die neue politische Agenda

Unabhängig von der Bewertung des Vorgehens der Putin-Regierung stellen sich Fragen, die in den kommenden Monaten die politische Welt beschäftigen werden. An vorderster Stelle betrifft das die Frage nach der Möglichkeit einer weiteren Ostausdehnung der EU. Die Differenzen zwischen den EU-Mitgliedsländern werden bei deren Beantwortung eine große Rolle spielen.

Nur Polen, Litauen, Lettland und Estland dürften ohne Vorbehalte dafür sein. Auch deshalb ist Polen seit einiger Zeit bemüht, Deutschland stärker an seine eigene Ostpolitik zu binden, wofür die Östliche Partnerschaft die geeignete Plattform zu sein scheint. Als Frank-Walter Steinmeier und Radoslaw Sikorski im Februar 2014 gemeinsam in Kiew den Stein ins Rollen brachten, der zur schnellen Flucht und anschließenden Amtsenthebung von Staatspräsident Viktor Janukowitsch führte, wurde das in Polen in diesem Sinne ausgelegt. Eine andere Schlüsselfrage ist die Interessenssphäre Russlands. Wie weit geht sie, wer erkennt sie von den anderen und aus welchen Gründen an? Lässt sich ein solches hegemoniales Vorgehen gegenüber den aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangenen Nachbarländern Russlands überhaupt aufrechterhalten?

Was halten die Gesellschaften und Regierenden in den betreffenden Ländern selbst davon? Wenn in den vergangenen Monaten in Deutschland häufig gefordert wurde, Russland zu verstehen, ging es meistens um Akzeptanz dieser Interessensphäre und darum, auch den Einsatz besonderer Mittel zu akzeptieren. Kaum wurde hingegen versucht, die Ukraine zu verstehen. Die aber ist seit bald 25 Jahren unabhängig, auch wenn aus dem Kreml nun immer öfter Stimmen zu hören sind, die das »Experiment« Ukraine für gescheitert erklären.

Der vollständige WeltBlick erschien in WeltTrends Nr. 95 »Die USA und Wir« (März/April 2014).

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