Kein Sport ohne Protest
Ein kleiner Überblick über kämpferische Höchstleistungen jenseits der Stadien
Ob die Proteste in Brasilien nach dem Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft wirklich abebben werden, wie manch ein FIFA-Funktionär hofft? Vor Ort glaubt man das eher nicht. Viele sind wie der Schriftsteller Paulo Lins viel mehr davon überzeugt, dass es auch während der Weltmeisterschaft Demonstrationen geben wird. »Es führt einfach kein Weg daran vorbei«, sagte Lins dem »Spiegel«. Er denkt, dass sich durch die Proteste mittelfristig Verbesserungen für das Land ergeben könnten.
Vor fast jeder Weltmeisterschaft, vor allen Olympischen Spielen, egal wo in der Welt, ähneln sich die Bilder: Menschen wehren sich gegen steigende Preise, Verdrängung von Armen oder Naturzerstörung, die scheinbar zwangsläufig mit solchen Großveranstaltungen einhergehen. Andere versuchen aus diesem Grunde, schon die Bewerbung für die Spiele zu torpedieren, oder sie benutzen die große Aufmerksamkeit für den Sport, um ihre politischen Anliegen voranzubringen.
In Brasilien ist es ein Mix verschiedener Motive, der Tausende Menschen seit Monaten auf die Straße treibt. So streiken die Angestellten der U-Bahn in Sao Paulo, wo das Eröffnungsspiel stattfindet, für höhere Löhne und halten 5000 obdachlose Familien in der Nähe des dortigen Stadions ein Stück Land besetzt. Die Bewegung der »Arbeiter ohne Dach« leistet praktischen Widerstand in einer Großstadt, in der die Mieten in den vergangenen Jahren um das Vierfache gestiegen sind. Die Nachricht von dem Indigenen, der bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei einem Beamten einen Pfeil ins Bein schoss, ging um die Welt.
Die Proteste kommen nicht aus heiterem Himmel. Vor allem richten sie sich gegen die gigantische Summe von über zehn Milliarden Euro, die für die Spiele ausgegeben werden, während gleichzeitig viel zu wenig Geld für soziale Sicherungssysteme, medizinische Versorgung und Bildung vorhanden ist. Denn bei Sportgroßereignissen wie einer WM werden riesige Kapitalsummen umgesetzt, die Bevölkerung vor Ort profitiert davon jedoch für gewöhnlich kaum. Schon im Juni 2013 eskalierten in Brasilien die Proteste. Auslöser waren die Preissteigerungen von Mieten und im Nahverkehr. Auch die massiven und zum Teil sehr militanten Demonstrationen gegen den Confed-Cup gaben einen Vorgeschmack auf mögliche Protestszenarien während der WM. Raul Zibechi, Experte für soziale Bewegungen in Lateinamerika, hat gerade ein (auf Deutsch leider noch nicht erschienenes) Buch über Brasilien geschrieben und verweist auf die Proteste, die es im Land schon im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele 2007 gab und die »ein Schlüsselelement zur Erzeugung eines Netzwerkes sozialer Bewegungen waren, die zu den Juniaufständen im Jahr 2013 führten«. Wobei es zwischen den aufstandsartigen Implosionen in den Favelas wie Ende April, den eher von Mittelschichten geprägten Großdemonstrationen in innerstädtischen Räumen, den gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen und dem plötzlichen Auftauchen anarchistisch geprägter schwarzer Blöcke zu unterscheiden gilt.
Erfahrungen mit massiven Protesten im Vorfeld einer Olympiabewerbung machte Anfang der 90er Jahre auch Berlin. Durch die Wiedervereinigung hatte die Stadt einen schmerzhaften Aufwertungsprozess mit steigenden Mieten erlebt. Nun befürchteten viele Menschen den endgültigen Ausverkauf und starteten die »Nolympia«-Kampagne. Ein breites Bündnis zog gegen die Pläne des Senats zu Felde - und gewann, ob nun aus eigenem Verdienst oder Glück. Berlin bekam die Spiele nicht. 56 Millionen Mark versenkte der Berliner Senat damals für die erfolglose Bewerbung.
Auch Kanada erlebte 2010 vor und während der olympischen Winterspiele in Vancouver Proteste von indigenen Gruppen und Umweltschützern, als für die angeblich so ökologischen Spiele Tausende Bäume gefällt, Wohnungslose aus der Innenstadt vertrieben und günstige Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose abgerissen wurden.
In München war man nach solchen Erfahrungen vorsichtig und befragte vor der Bewerbung für die olympischen Winterspiele 2022 die Bevölkerung. Dass sich Münchens Oberbürgermeister Ude dann beim Bürgerentscheid eine derartige Klatsche abholen würde, überraschte sogar die Olympiagegner. »Ich glaube, in ganz Deutschland sind Olympia-Bewerbungen mit dem heutigen Tag vom Tisch«, frohlockte das »Nolympia«-Bündnis. Entsprechend kleinlaut klang vergangene Woche Berlins Innen- und Sportsenator Frank Henkel, der darüber nachdenkt, die Berliner über eine mögliche Olympiabewerbung abstimmen zu lassen. Insofern hat der Protest gegen Sportgroßveranstaltungen schon Erfolg gezeigt.
Es ist die Angst vor spektakulären Protestbildern und vor zu großer internationaler Aufmerksamkeit für die schmutzigen Seiten ihres Landes, die Politiker unter Druck setzen. Deshalb ergreifen Menschen auch in Bahrain die Chance, die die Präsenz internationaler Medien während der Formel-Eins-Rennen mit sich bringt, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Mit dem Sportereignis und seinen Kosten hat ihre Forderung nach demokratischen Reformen nicht viel zu tun. Die Demonstranten nutzen vielmehr die mediale Bühne, die solche Veranstaltungen ihnen bietet. Das dachten sich auch Kanadas Studenten, als sie vor zwei Jahren die Partymeilen des Formel-Eins-Zirkus’ aufsuchten, um öffentlichkeitswirksam zu demonstrieren. All das reicht jedoch nicht an die Aktion der afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt heran. Das Bild von der Siegerehrung zum 200-Meter-Lauf der Herren, als sie die Köpfe senkten und jeweils eine Faust mit einem schwarzen Handschuh erhoben, ging in die Geschichte ein.
Ein wirklicher Coup liegt in Deutschland schon ein paar Jahre zurück. Er gelang Berlins linker Szene zur Fußball-WM 1974, gut ein Jahr nach dem Putsch gegen Chiles Präsidenten Allende. Beim letzten Gruppenspiel Chile gegen Australien gelang es Aktivisten in einem unbeobachteten Moment, auf das Spielfeld zu stürmen und ein Transparent zu entrollen. Den Solidaritätsgruß »Chile Socialista« sahen Tausende Chilenen plötzlich auf ihren Bildschirmen. Dagegen war dann auch die Zensur von Pinochets Junta machtlos.
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