Islamisten im Irak nehmen auch Tikrit ein
48 Geiseln bei Angriff auf türkisches Konsulat genommen / Auch über 30 türkische Lkw-Fahrer entführt / Eine halbe Million Menschen auf der Flucht vor den Dschihad-Kämpfern / UNO zeigt sich »tief beunruhigt«
Berlin. Die Rebellen im Irak haben ihren Vormarsch fortgesetzt und nach Polizeiangaben auch die zentralirakische Stadt Tikrit eingenommen. »Ganz Tikrit ist den Händen der Kämpfer«, sagte ein Polizeioberst in der Hauptstadt der Provinz Salaheddin. Einem Polizeimajor zufolge befreiten die Kämpfer in der Stadt rund 300 Gefängnisinsassen. Zuvor hatten sich die Aufständischen nach Angaben der Provinzregierung schwere Gefechte mit den Sicherheitskräften geliefert. Einem ranghohen Polizeibeamten zufolge griffen Kämpfer der sunnitischen Dschihadistengruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil) die Stadt aus nahezu allen Richtungen gleichzeitig an. Tikrit liegt 160 Kilometer nördlich von Bagdad und ist die Geburtsstadt des früheren irakischen Machthabers Saddam Hussein, der nach der US-Militärinvasion gestürzt und hingerichtet wurde.
In der nordirakischen Stadt Mossul waren Islamisten zuvor in das türkische Konsulat eingedrungen und haben 48 Menschen als Geiseln genommen. Hinter dem Angriff stecke vermutlich die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis), berichteten türkische Medien am Mittwoch. Unter den Geiseln befindet sich nach übereinstimmenden Angaben der türkische Konsul. Die Zahl der entführten türkischen Lkw-Fahrer in Mossul erhöhte sich indessen auf über 30. Die Fahrer waren am Dienstag von Isis-Kämpfern verschleppt worden. Isis gehört zu den radikalsten islamistischen Gruppen im Nahen Osten.
Der Vormarsch von Dschihad-Kämpfern im Nordirak hat inzwischen eine halbe Million Menschen in die Flucht getrieben. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) teilte am Mittwoch weiter mit, in Mossul könnten die Verletzten nicht versorgt werden, weil die großen Krankenhäuser nicht mehr zugänglich seien. Bei ihrem weiteren Vormarsch exekutierten die Dschihadisten laut Behörden 15 irakische Sicherheitskräfte.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich »tief beunruhigt« über die jüngsten Entwicklungen im Norden Iraks. Kämpfer der sunnitischen Dschihadistengruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIL) hatten Mossul und mehrere weitere Städte am Dienstag unter ihre Kontrolle gebracht. Sie patrouillierten am Mittwoch durch die Straßen und forderten Behördenmitarbeiter über Lautsprecher auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren.
Der von der ISIL verwendete Begriff Levante (»Sonnenaufgang«) bezieht sich auf das Hinterland der östlichen Mittelmeerküste - die ISIL kontrolliert auch Teile des Staatsgebietes im benachbarten Syrien, insbesondere die östliche Provinz Deir Essor. Bei den Kämpfen in Syrien, in die auch die Al-Nusra-Front verwickelt ist, wurden seit Januar mehr als 6000 Menschen getötet.
Der irakische Schiitenführer Moktada Sadr rief die Bürger angesichts des Vormarsches der sunnitischen Extremisten auf, religiöse Stätten zu schützen. Die Bürger sollten »Friedenseinheiten« bilden, um die heiligen Stätten der Muslime und der Christen zu bewahren, sagte al-Sadr. Der schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki hatte am Dienstag erklärt, Freiwillige sollten für den Kampf gegen die Extremisten bewaffnet werden, der Notstand werde ausgerufen.
Einwohner berichteten vom Terror, den die Islamisten in Mossul verbreiteten. Der 30-jährige Ladenbesitzer Abu Ahmed sagte, er habe seit Donnerstag vergangener Woche »wegen der Sicherheitslage« sein Geschäft nicht mehr geöffnet. Der 25-jährige Student Bassam Mohammed fürchtete die Einschränkung von Freiheiten und den »Erlass neuer Gesetze«.
Da die Erdölvorkommen Iraks vor allem im Zentrum und Süden des Landes liegen, dürften die Vorgänge im Norden nach Einschätzungen von Experten die Öllieferungen zunächst nicht beeinträchtigen. Die ISIL werde Bargeld aus den Banken in Mossul und militärische Ausrüstung aus erstürmten Stellungen der Sicherheitskräfte nutzen, prognostizierte der Abteilungsleiter der Eurasia-Group in New York, Ayham Kamel. »Wir sehen keine deutliche Verschlechterung des Sicherheitskontextes vorher.« Auch ein Regierungsvertreter in Bagdad sagte, der »Ölsektor« sei »nicht betroffen«.
Die Bundesregierung hat angesichts der dramatischen Ereignisse im Irak die politischen Akteure im Land aufgerufen, ihren Machtkampf zu beenden und gemeinsam gegen »Terrorismus« vorzugehen. Die Einnahme einer ganzen Stadt durch Islamisten sei »eine neue Stufe der Eskalation«, die auch in der Bundesregierung auf »allergrößte Sorge« stoße, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, am Mittwoch in Berlin. Die Bundesregierung verurteile »die terroristischen Anschläge und die Besetzung von Städten und Teilen von Provinzen im Irak durch terroristische Kräfte auf das Schärfste«, sagte der Außenamtssprecher. Sie erwarte von den politischen Verantwortungsträgern im Irak, dass sie sich nach den Wahlen im Mai so schnell wie möglich auf eine handlungsfähige Regierung einigten, die für Sicherheit und Frieden sorge. Die »unterschiedlichen Interessen« der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Glaubensrichtungen dürften den Irak nicht weiter spalten.
Die Partei des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki hatte bei der Parlamentswahl vor rund drei Wochen zwar die meisten Mandate gewonnen, die notwendigen Sitze zur Regierungsbildung aber klar verfehlt. Wegen der Zersplitterung der politischen Landschaft konnte bislang keine Koalition vereinbart werden. Agenturen/nd
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.