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Die erfundene Vergangenheit

Große Fälschungen der Geschichte: Zwei tschechische Handschriften

  • Michael Wegner
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Authentizität von literarischen Texten beschäftigt die Wissenschaft immer wieder aufs Neue. Es gibt bekannte Werke, von denen wir nicht wissen, wer sie eigentlich geschaffen hat. Andere Texte sind umstritten. Beispielsweise wurde bis in die jüngste Zeit daran gezweifelt, ob William Shakespeare der tatsächliche Schöpfer seiner Werke gewesen ist und ob Michail Scholochow wirklich allein das Romanepos »Der stille Don« geschrieben habe; in beiden Fällen ist mittlerweile mit Hilfe von modernen textkritischen Untersuchungsmethoden zweifelsfrei nachgewiesen, dass sie die Autoren ihrer Werke gewesen sind. Sodann tauchen immer wieder Texte auf, bei denen erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten erwiesen war, dass es sich um keine authentischen Dokumente, sondern um Fälschungen handelte. Von dieser Art sind zwei Handschriften in alt-tschechischer Sprache.

Sternstunde der Slawistik?
Die aufregende Geschichte um diese begann im Frühherbst des Jahres 1817. Der junge böhmische Philologe, Dichter und Editor altslawischer Texte Wazlaw Hanka (1791-1861) teilte mit, er habe am 16. September 1817 im Turmkeller der Dekaneikirche St. Johannes der Täufer in Dvur Králové nad Labem (Königinhof an der Elbe) eine Handschrift gefunden. Diese hieß fortan nach dem Fundort »Die Königinhofer Handschrift« (Rukopis královédvorsky). Hanka erklärte, dass aufgrund der darin geschilderten Ereignisse die Handschrift Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden sein müsste. Sie wäre damit das älteste bekannte Zeugnis der tschechischen Literatur.
Kurz darauf, im Herbst 1817, meldete sich Hanka, der inzwischen als Bibliothekar am in Prag gegründeten Tschechischen Nationalmuseum arbeitete, erneut zu Wort und teilte mit, dem Museum sei eine weitere Handschrift übergeben worden - von einem gewissen Josef Kovár im Herbst 1817 auf Schloss Grünberg bei Nepomuk gefunden, der sie dann anonym an den Fürsten Kolowrat gesandt habe, mit der Bitte, sie als Geschenk dem neugegründeten Nationalmuseum zu vermachen. Die Handschrift wurde ebenfalls nach dem Fundort benannt: »Die Grünberger Handschrift« (Rukopis zelenohorsky). Hanka datierte sie - ebenfalls auf Grund darin geschildeter Ereignisse - in das 8. oder 9. Jahrhundert.
Beide Text- und Liedersammlungen erschienen als ausgesprochener Glückfall für die volkskundliche und kulturgeschichtliche Forschung in den slawischen Ländern. Slawische Philologen sprachen von einer »Sternstunde« der Slawistik, die sich zu jener Zeit als eine feste Wissenschaftsdisziplin etablierte. Ihr Aufschwung wurde gerade auch dadurch begünstigt, dass in diesen Jahrzehnten, so bei den Russen (»Igorlied«) oder Serben, ebenfalls alte Handschriften entdeckt wurden, die die These von einer eigenständigen Kultur der slawischen Völker schon in den frühen Perioden ihrer Geschichte untermauerten. Dadurch wurde die Auffassung gestützt, das Slawentum bilde in ethnisch-kultureller Hinsicht eine völkische Einheit.
Die beiden Funde in Böhmen wurden von der tschechischen Öffentlichkeit, aber auch von den slawischen Nachbarn mit Begeisterung aufgenommen. Nun könne auch das tschechische Volk auf ein originäres Schrifttum verweisen, das von einer langen eigenständigen Sprach- und Literaturpflege in den böhmischen Ländern Zeugnis ablege, so der Grundtenor zeitgenössischer Kommentare.
Sofort nach seinen »Entdeckungen« war Hanka an die Popularisierung der Handschriften gegangen. Seine Publikation erregte starkes Interesse in ganz Europa. Goethe, die Brüder Grimm, Chateaubriand und andere Größen des europäischen Geisteslebens bekundeten freudiges Erstaunen. Der hoch angesehene Komponist Antonin Dvorak vertonte vier Texte aus der Königinhofer Handschrift. Und als der führende Historiker Frantisek Palazky seine fünfbändige »Geschichte Böhmens« (1836/1837) vorlegte, bezog er sich ausdrücklich auf beide Handschriften.Wie von ihrem »Entdecker« beabsichtigt, wurden die Handschriften zu einem bedeutenden kulturellen Symbol im Denken des tschechischen Volkes.
Dass die beiden Handschriften so verinnerlicht wurden, hat mit dem nationalen Aufbruch zu tun, der das tschechische Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfasste. Die Intelligenz verfasste Manifeste, die der nationalen Wiedergeburt der Tschechen wie auch der anderer slawischer Völker theoretische Substanz verliehen. Man stützte sich auch auf die Geister der europäischen Aufklärung, namentlich auf den Slawenfreund Johann Gottfried Herder, der dazu aufgerufen hatte, Lieder und Sagen der Völker zu sammeln.

Die anonyme Kritik
In die Euphorie platzte dann, noch zu Lebzeiten Hankas, im Jahre 1858, ein anonymer Autor, der in einem Zeitungsartikel die Königinhofer Handschrift als Fälschung bezeichnete. Die Empörung war gewaltig. Hanka klagte vor Gericht, der Herausgeber der Zeitung wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er aber nicht anzutreten brauchte, weil ihn der österreichische Kaiser Franz Josef amnestierte. Die Popularität Hankas nahm immens zu. Sein Begräbnis 1861 gestaltete sich zu einer nationalen Manifestation.

Ein Jahrhundertstreit
Der folgende Jahrhundertstreit um die Echtheit der beiden Handschriften, leidenschaftlich angefochten wie verteidigt, erfuhr seinen Höhepunkt 1886/87, als die tschechischen Gelehrten Jan Gebauer, Jaroslaw Goll und Thomas G. Masaryk, der spätere erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik, in der Zeitschrift »Athenaeum« ausführlich darlegten, dass Hanka unter Mitwirkung der Schriftsteller Josef Linda (1791-1834) und Wazlaw Swoboda kunstvolle Fälschungen produziert habe. Sie hätten ihre eigenen romantischen Dichtungen ins Altböhmische übertragen und in mittelalterlicher Schrift auf altes Pergament geschrieben. Für Masaryk war Hanka der »tätigste Fälscher von alttschechischen Literaturwerken und Dokumenten«. Und er sprach davon, dass eine moderne Nation sich nicht auf eine erfundene Vergangenheit berufen sollte. Der Streit sprengte den Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung und wurde auf politischer und moralischer Ebene ausgetragen, inklusive persönlichen Beleidigungen. Masaryk musste 1893 sein Reichsrat- und Landtagsmandat niederlegen.
Das Hin und Her um die Echtheit der Handschriften zog sich bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Erst 1967 bestätigte eine umfassende Untersuchung die Fälschungen. Die Urheberschaft Hankas wurde als sehr wahrscheinlich angenommen. Diese Ergebnisse wurden aber erst in den 90er Jahren veröffentlicht. Und trotz ziemlich eindeutiger Beweislage sind bis heute Stimmen zu vernehmen, die an der Echtheit festhalten.
Die beiden Handschriften werden weiterhin im Tschechischen Nationalmuseum in der Hauptstadt Prag aufbewahrt - nunmehr aber in der Abteilung für kostbare Handschriften des 19. Jahrhunderts.
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