Mit Rousseau für eine große Transformation

Entscheidend sind nicht Koalitionen, sondern die Inhalte: zur Debatte um die Strategie der Linkspartei und Rot-Rot-Grün

  • Wolfgang Borchardt und Götz Brandt
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Ziele der LINKEN für eine zukünftige Gesellschaft sind im Erfurter Parteiprogramm von 2011 festgeschrieben. Es fordert einen »sozial-ökologischen Umbau zu nachhaltiger Entwicklung anstelle profitorientiertem Wachstum« … »in Richtung eines nachhaltigen, ressourcensparenden und umweltbewahrenden Wirtschaftens und Lebens«. Dieses Programmziel ist konsequent antikapitalistisch und erfordert deshalb auch eine fundamentalkritische Untersetzung einer jeden politischen Aktion. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sich die Partei in ihrer Tagespolitik so wenig auf das wichtige Programmziel bezieht. Es passt noch weniger zu einer Partei, die in Regierungen in einem kapitalistischen Staat mitwirken will. Könnte Rot-Rot-Grün eine antikapitalistische Politik machen?

Um das Programmziel der LINKEN stärker in den Blickpunkt zu rücken, haben Michael Brie und Dieter Klein vorgeschlagen, »als Kern eines neuen Entwicklungspfades« einen »neuen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag« auszuarbeiten und abzuschließen. Seit Rousseau sein Hauptwerk zum Gesellschaftsvertrag 1762 veröffentlicht hatte, gibt es Diskussionen und Vorschläge, wie das Gemeinwohl durch Übereinkünfte am besten gesichert werden kann. Vorrangig ging es dabei um das soziale Wohl und um Gerechtigkeit. Heute erfordert der Zustand unserer Umwelt kategorisch mehr als nur soziale Gerechtigkeit. Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hatte 2011 erkannt, dass unsere planetarischen Grenzen eine große Transformation und damit einen neuen Gesellschaftsvertrag verlangen.

Bis heute hat keine bürgerliche Partei diese Erkenntnisse zur Grundlage ihrer politischen Arbeit im Bundestag gemacht. Von der Linken Bundestagsfraktion wurde 2012 ein Fahrplan für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft erarbeitet, der »Plan B«. In diesem Plan wird die Vision des Zustandes der Gesellschaft und Wirtschaft im Jahre 2050 beschrieben. Dabei wird immer noch mit einer kapitalistischen Gesellschaft gerechnet, die allerdings naturverträglich, ressourcensparend, sozial und demokratisch sein soll, weil die Bevölkerung das dann wünscht. Doch ob ein solcher »grüner« Kapitalismus überhaupt möglich ist, darüber wird gestritten.

Der neue linke Gesellschaftsvertrag von Brie und Klein soll drei wesentliche Ziele haben: gleicher Zugang zu den Grundgütern eines freien Lebens, ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft sowie Sicherung des Primats einer demokratischen Politik. Erstmalig wurde von den beiden Theoretikern »der zügige ökologische Umbau der stofflichen, energetischen und Verkehrsstruktur unserer Gesellschaft, verbunden mit einem Wandel der Lebensweisen und einer neuen Industriepolitik…« gleichberechtigt mit den beiden anderen Zielen gefordert. Das war bisher in der Praxis der LINKEN nicht der Fall, die sozialen Ziele standen eindeutig und meist sogar einzig im Mittelpunkt der Parteipolitik und Wahlpropaganda.

In Zeiten der Herrschaft des globalen Kapitals ist die Forderung nach einem neuen Gesellschaftsvertrag zwar objektiv notwendig, aber die Möglichkeiten der Durchsetzung selbst einzelner Vertragspunkte sind fraglich. Das Kapital diktiert gegenwärtig den Inhalt des globalen Gesellschaftsvertrages. Im Interesse der Profitmaximierung werden soziale Errungenschaften abgebaut und die Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums zugunsten des Kapitals beschleunigt. Die Ausbeutung der Natur nimmt immer größere Ausmaße an. Dennoch ist die Forderung nach einem neuen Gesellschaftsvertrag zweifellos richtig, mehr noch, er ist unbedingt erforderlich, denn die Rettung der menschlichen Zivilisation steht auf der Tagesordnung und wir benötigen ein klares politisches Ziel. Seit etwa 50 Jahren wissen wir, dass die weitere Ausbeutung und Vernichtung der Natur Grenzen hat. Bei vielen wichtigen Industrierohstoffen sind die maximalen Fördermengen überschritten. Verteuerung und Verknappung sind absehbar oder schon eingetreten. Die Aufnahmefähigkeit der Umwelt für unsere Abprodukte (z.B. Abfälle, CO2 usw.) wird permanent überschritten. Wenn sich in den Industrieländern keine radikale Massenbewegung entwickelt, wird es keine Zukunft der Menschheit geben, weil »die Ausrottung der Menschheit die schlussendliche Begleiterscheinung im destruktiven Entwicklungsverlauf des Kapitals ist« (Meszaros, 2001). Nur eine Revolution in der Struktur der menschlichen Gesellschaft kann uns retten, sonst wird die Zukunft der Welt »garstig, viehisch und kurz« sein (Moyers, B. 1998). Extreme Wetterlagen, zunehmende Stürme, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen geben einen kleinen Vorgeschmack darauf. Und Foster ist der Überzeugung (2011): »es kann keine Lösung für das Ökologieproblem der Welt erzielt werden, die sich nicht die Überwindung des Kapitalismus als imperialistisches Weltsystem zum Ziel gesetzt. … Naturrevolution und soziale Revolution müssen vereint werden«.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag muss diese Prozesse berücksichtigen und einen Ausgleich nicht nur zwischen heute Lebenden schaffen, sondern auch zukünftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt und genügend Ressourcen sichern.

Welche Möglichkeiten hat nun die LINKE, im Kapitalismus eine antikapitalistische Politik zu betreiben und durchzusetzen? Und welche Rolle kann Rot-Rot-Grün dabei spielen?

Im Parteiprogramm der LINKEN wird festgestellt: »Die LINKE ist der Überzeugung, dass ein krisenfreier, sozialer, ökologischer und friedlicher Kapitalismus nicht möglich ist«. Es ist aber keine Zeit mehr, darauf zu warten, bis eine »Weltrevolution« herangereift ist. Wenn wir nicht in den nächsten 20 Jahren umsteuern, dann kommt es nicht nur zum Kollaps des Industriesystems sondern auch zur Gefährdung der Existenz des Menschengeschlechts. Und weil das so ist, müssen jetzt antikapitalistische Projekte und Kampagnen durch die Linke bereits im Schoße des Kapitalismus vorangebracht werden, und zwar in den einzelnen Nationen. Es kommt darauf an, insbesondere die Macht der DAX-Unternehmen und Banken zu schmälern, die gegenwärtig die Regierungspolitik bestimmen. Die Macht der Konzerne bereits im kapitalistischen System zu verringern, muss eine Hauptaufgabe der LINKEN sein. Die bisherige Praxis – aktuell insbesondere in Brandenburg – zeigt, dass im Konfliktfall der Koalitionserhalt Vorrang hat. Die Möglichkeiten für eine antikapitalistische Politik sind für einen Juniorpartner in einer Koalition »begrenzt«. Sie müssen durch außerparlamentarische Aktivitäten unterstützt und erweitert werden. In ihrem Parteiprogramm fordert die LINKE, dass eine demokratische Wirtschaftsordnung auf öffentlichem und demokratisch kontrolliertem Eigentum bei der Daseinsvorsorge und der gesellschaftlichen Infrastruktur, in der Energiewirtschaft und im Finanzsektor beruhen muss. Vor allem die Betriebe dieser Wirtschaftsbereiche dürfen nicht nach dem Profitkalkül privater Unternehmen geführt werden. Konkrete Vorschläge, wie diese Ziele der Linken zu verwirklichen wären, müssen mit dem Grundgesetz übereinstimmen. Eine Enteignung ist zwar möglich (Art. 14 (3) und 15), aber der Staat ist nicht in der Lage, Entschädigungen im Falle der Enteignung zu zahlen. Ein Weg, der in der Vergangenheit des deutschen Staates bereits zweimal beschritten wurde, ist die Treuhandlösung bei der Verwaltung von Betrieben und Einrichtungen ganzer Volkswirtschaften oder ihrer Teile. Der Staatsapparat wäre damit gefordert, war aber prinzipiell in der Lage, ganze Volkswirtschaften staatlich zu verwalten. Deshalb sollte die Linke die Treuhandlösung gegenüber der Enteignunglösung bevorzugen. Jeder Kapitalist kann sein Eigentum behalten, aber nicht mehr darüber verfügen. Anlässe zur Überführung von Betrieben in Treuhandvermögen könnten sein: wenn ein Betrieb unsere Lebensgrundlagen und die Umwelt zerstört, die Umweltbelastungen nicht reduziert werden, die Produkte nicht langlebig und reparaturfähig gestaltet werden, sorglos mit Rohstoffen und Energie umgegangen, die Umstellung auf erneuerbare Energie verzögert wird, ein Betrieb seine Monopolstellung bei der Preisgestaltung ausnutzt, ein Betrieb in der Dritten Welt Naturzerstörung betreibt. Es gibt weitere Gründe, die das Gemeinwohl und die sozialökologische Nachhaltigkeit beeinträchtigen. Von einer Unterstellung unter die Treuhand sind auszuschließen: Handwerksbetriebe, Dienstleistungsbetriebe für den Bevölkerungsbedarf, kleiner Industriebetriebe bei mitarbeitender eigener Familie, niedergelassene Ärzte und kleine Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, also alle kleinen bis mittleren Unternehmen. Für eine solche Treuhandlösung könnten große Teile der Bevölkerung gewonnen werden, weil sie der Mehrheit der Bevölkerung nützen.

Ein weiteres Politikfeld, auf dem die Monopole gegenwärtig die Überhand gewonnen haben, ist die Energiewende. Um ihre marktbeherrschende Stellung zu festigen, hat die Regierung im Interesse der Strom-Oligopole das Erneuerbare Energiegesetz derartig umgestaltet, dass die Energiewende erheblich abgebremst wird. Sie wollen verhindern, dass weitere Marktanteile verloren gehen. Unter diesen Bedingungen hat die LINKE zwei Aufgaben: zum Einen muss sie die Energiewende in die Kommunen tragen und die Befreiung der BürgerInnen vom Stromdiktat der Konzerne fördern und zum anderen muss sie die Energiepolitik der Regierung und der Monopole als ein Verbrechen am Volke brandmarken. Bei weiterer Erderhitzung durch die Verbrennung fossiler Energieträger werden nämlich die Klimabedingungen auch in Deutschland katastrophale Ausmaße annehmen.

Eine wichtige kommunale Aufgabe der LINKEN muss deshalb die Unterstützung beim Aufbau einer dezentralen Energieversorgung in Dörfern und Kleinstädten sein. Ebenso wichtig ist die Förderung bei der Herstellung der Energieautarkie von Einfamilienhäusern durch Kombination von Fotovoltaik, kleinen Windrädern und Energiespeicheranlagen. Das können sich zwar nur begüterte Kreise leisten, aber schon gegenwärtig werden 11 Prozent der Strommenge durch Endkunden der Strommonopole erzeugt.

Mit dem Ziel, den Rohstoffverbrauch um die Hälfte zu senken, muss die Regierung einen Produktgestaltungszwang ausüben. In Japan wurde bereits 1998 das so genannte Top-Runner-Prinzip als politisches Instrument zur Steigerung der Energieeffizienz angewendet. Der Energieverbrauch des effizientesten Produkts wird zum Standard für die Branche erhoben. Alle müssen dem nacheifern, sonst gibt es Strafzahlungen oder ein Verkaufsverbot. Das zeigt, dass der Staat mit großem Erfolg ins Marktgeschehen eingreifen kann. Dieses Prinzip muss auch in Deutschland angewendet werden. Ein anderer Weg, Material einzusparen, ist die Erhöhung der Lebensdauer der Produkte durch gleichmäßiges Abnutzungsverhalten aller Bauteile, entsprechende Materialqualität und reparaturfreundliche Konstruktion, durch Wiederverwendung und Recyclingfähigkeit der Baugruppen bei Lebensende des Produkts. Diese Forderungen widersprechen der profitorientierten Absatzstrategie und können nur mit Gesetzen durchgesetzt werden. Im Kapitalismus ist ein Produkt, das sich nicht abnutzt und nicht zum Wegwerfartikel wird, eine Tragödie fürs Geschäftsleben. Profitabler ist das Kaufen für die Müllhalde. Deshalb werden Produkte oft mit geplanter Obsoleszenz gebaut. Damit entsteht ein geplanter Mehrverbrauch. Gegenwärtig haben wir eine Wegwerfgesellschaft als Regierungsprogramm. Es wird höchste Zeit dass die LINKE entsprechende Gesetzesvorlagen einbringt.
Es gibt noch viele weitere Gebiete, wo die Regierung durch Gesetze den Markt regulieren muss: Einschränkung der Werbung, Sicherung der Käuferinteressen, Gesundheitsgefahren durch Lebensmittel, Unterstützung der Arbeit der Verbraucherverbände, Mobilfunk ohne Gesundheitsgefährdung, Einführung des Niedrigenergiehaus-Standards und viele andere Gebiete.

Alle diese benannten Maßnahmen haben ihren Wert auch für die Herausbildung einer zukunftsfähigen Lebensweise in der Gesellschaft, die sich nicht durch Überzeugung, sondern vornehmlich durch die normative Macht des Faktischen herausbildet.

Ein Teil dieser Ziele kann zusammen mit SPD-, Grünen- und selbst mit CDU/CSU-Politikern angegangen werden. Entscheidend sind nicht Koalitionen, sondern die Inhalte und die Politiker, die diese vertreten.

Wolfgang Borchardt und Götz Brandt sind Mitglieder des Sprecherrats der Ökologischen Plattform bei der Linken.

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