»Heute nicht mehr«
Wie Flüchtlinge in Hamburg auf ihre Sachbearbeiter warten - und doch nur Wachleute sehen
Ein verregneter Morgen im Mai. Als im Bus der Linie 23 die Haltestelle »Heselstücken« angezeigt wird, drängt gut die Hälfte der Fahrgäste zum Ausstieg. Auch eine vierköpfige Familie verlässt den Bus in diesem unwirtlichen Industriegebiet unweit des Hamburger Flughafens. Ihr letztes Geld haben Dhimiter und Katerina Mushkolaj* zusammengekratzt, um mit ihren Kindern in die Sportallee zu fahren und dort erneut darauf zu warten, zu einem Sachbearbeiter vorgelassen zu werden. Schon einige Tage zuvor hatten sie das versucht, hatten gut fünf Stunden im Flur der Zentralen Erstaufnahme der Behörde für Inneres und Sport gewartet - stehend, in dichtem Gedränge. Am Ende sagte ihnen ein Dolmetscher: »Heute nicht mehr.«
Jetzt also der zweite Versuch. Um Punkt sieben Uhr stehen die Mushkolajs vor dem kahlen Treppenhaus, das in den ersten Stock des 60er-Jahre-Baus führt. Dort sitzen die Sachbearbeiter der Ausländerbehörde, dort unterhält auch das Sozialamt eine Dependence. Um acht Uhr beginnt hier der Arbeitstag, doch wer erst um acht Uhr kommt, muss sich auf eine ungewisse Wartezeit einstellen, kommt vielleicht gar nicht mehr an die Reihe. Überhaupt ist es diese Ungewissheit, die in der Sportallee mit Händen zu greifen ist: »Hinweis« steht auf einem hastig an die Wand geklebten Zettel, »Neue Öffnungszeiten ab dem 1. Juni 2010« auf einem anderen. Übersetzungen gibt es in dieser Anlaufstelle für Menschen aller Erdteile grundsätzlich nicht. Die einzigen Ansprechpartner sind Mitarbeiter des privaten Sicherheitsunternehmens WEKO, die mit Glück ein paar Brocken Englisch sprechen. Erst kürzlich berichtete das »Team Wallraff« über ihre miesen Arbeitsbedingungen - und über den Rassismus in ihren Reihen.
Berlin. Der Musiker Bela B. ist genauso dabei wie die marxistische Feministin Frigga Haug, der Journalist Günter Wallraff hat ebenso unterschrieben wie die LINKE-Vorsitzende Katja Kipping, der Schauspieler Rolf Becker und der Regisseur Volker Lösch: Mit einem »Manifest für Lampedusa in Hamburg« haben mehr als 200 Erstunterzeichner aus Politik, Kultur, Hamburger Stadtszene und Gewerkschaften ihre Solidarität mit den afrikanischen Flüchtlingen erklärt, die seit Frühjahr 2013 in Hamburg leben und dort bundesweit beachtet um ihr Bleiberecht ringen. Bis zum Mittwochnachmittag haben mehr als 2000 Menschen ihre Unterschrift unter den Aufruf gesetzt.
»Wir unterstützen den Kampf dieser Gruppe, aus den unterschiedlichsten Gründen«, heißt es in dem Appell, der in dieser Woche vorgestellt wurde. »Was uns eint, ist die Überzeugung, dass diese Menschen eine Zukunft haben müssen - und zwar hier, in dieser Stadt.« Die Flüchtlinge hätten »alle Gründe, sich gegen die EU-Flüchtlingspolitik zu stellen, die der Senat an ihnen zu exekutieren versucht«. Die Unterzeichner zeigen sich »froh, dass sie den Mut und die Ausdauer haben, sich dagegen zu stellen«. nd
Der Aufruf kann im Internet unter manifest-fuer-lampedusa-hh.de unterzeichnet werden.
Jetzt steht die Familie also eine Stunde vor Dienstbeginn vor einem solchen Wachmann, der erhöht auf einer Treppenstufe den Durchgang abschirmt und etwas sagt, wie »Ihr seid früh gekommen, Ihr seid dann später die Ersten«. Nach und nach treffen immer mehr Flüchtlinge ein, die von dem Mann allesamt geduzt werden und ein paar spärliche Informationen erhalten. Neben Menschen, die eine Unterkunft benötigen oder einen Aufenthaltsstatus, kommen nun auch immer mehr Flüchtlinge, die ihr Geld abholen möchten. Zweimal pro Woche zahlt das Sozialamt hier die Barleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aus, montags und donnerstags. Nun ist es Montag, doch die Kasse ist leer. Kurz nach acht Uhr wird das dem Wachmann von oben zugerufen, der daraufhin in die Menge brüllt: »Heute kein Geld!« Es wird unruhig, gut die Hälfte der Wartenden ist wegen der Auszahlung gekommen, einer sogar aus dem von Hamburg betriebenen Lager Horst bei Boizenburg. »Hast Du nicht verstanden, heute nix Geld«, ruft ihm der WEKO-Mann zu. Weitere Erklärungen gibt es nicht. Das Prozedere wiederholt sich alle paar Minuten, wenn weitere Flüchtlinge eintreffen.
Die Stimmung wird nun aggressiv, nicht wenige haben die Fahrt in die Sportallee mit ihrem letzten Geld bezahlt, wissen nicht einmal, wie sie es zurück in die Unterkunft schaffen sollen. Die Wachleute, die auf der Treppe stehen - inzwischen sind es zwei - verweisen die Menschen auf Donnerstag, manchmal auch auf »morgen« oder das »nächste Mal«. Als eine Frau nach einer Unterkunft für einen Bekannten verlangt, wird es wieder laut. »Er hat TBC«, ruft sie. Vor drei Wochen war der Mann wegen seiner Tuberkulose ins Krankenhaus eingeliefert worden. Heute hat man ihn dort entlassen, seine Unterkunft ist an einen anderen vergeben worden. »Hau ab«, ruft ihm der Wachmann zu. »Du hast TBC, geh zum Arzt.« »Da komme ich her«, antwortet der Mann. Er ist verzweifelt. Flamur, der 15-jährige Sohn der Mushkolajs, bietet sich als Übersetzer an. Der Wachmann bedankt sich, lässt dem Mann aber wieder nur ausrichten, dass er bitte gehen soll. Er will jetzt mit in das Zimmer seiner Bekannten ziehen, Ansteckung hin oder her. Derweil erteilt der zweite Wachmann Rechtsauskünfte: »Das ist wie ein Pass«, sagt er mit Blick auf ein Dokument, das ihm von einem der unsichtbaren Sachbearbeiter heruntergereicht wurde, »damit kannst Du Dich in Hamburg frei bewegen.« Und wenn nicht?
»Unseres Erachtens ist die Erstaufnahme kollabiert«, sagt Anne Harms mit Blick auf die Zustände in der Sportallee. Die Leiterin der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt hat regelmäßig Klienten, die dort vorsprechen müssen oder von dort berichten. »Für vorübergehende Bearbeitungsengpässe hätten wir durchaus Verständnis, wenn die Behörde alles daran setzen würde, die Zustände möglichst schnell zu verbessern«, so Harms. Solange dies nicht erkennbar sei, zeitgleich aber finanziell wie personell gewaltiger Aufwand betrieben werde, um einzelne Personen abzuschieben, »können wir nicht akzeptieren, dass die normale Wartezeit für die Ausstellung eines Krankenscheins acht Wochen beträgt. Da stimmen die Prioritäten nicht, das ist verantwortungslos.«
Für Norbert Smekal ein unzulässiger Vergleich: »Wenn vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Abschiebung angeordnet worden ist, obliegt es nicht dem jeweiligen Bundesland, sich darüber hinwegzusetzen«, sagt der Leiter des für die Erstaufnahme zuständigen Einwohner-Zentralamtes. Im Übrigen seien hier andere Sachbearbeiter zuständig. Wegen einer »vervielfachten Zahl« eintreffender Flüchtlinge spricht aber auch Smekal von einer »sehr angespannten Situation«, bei der mittlerweile leider auch die Unterbringung in Zelten »kein Tabu mehr« sei. Und dieser Überlastung sei es auch geschuldet, dass Teile der Kommunikation und die Aushändigung von Dokumenten in der Sportallee durch den Ordnungsdienst erfolgten - »aus verwaltungsökonomischen Gründen«, wie Smekal es nennt.
Betrieben wird die Erstaufnahme von »fördern & wohnen«, einem öffentlichen Dienstleistungsunternehmen der Hansestadt, das in seinem Leitbild unter anderem feststellt: »Wir begegnen unseren Klientinnen und Klienten mit Respekt und achten ihre Würde.« Respekt und Würde haben die Mushkolajs in der Sportallee zwar nicht gefunden. Nach knapp drei Stunden Wartezeit am zweiten Tag rief dann aber eine freundliche Dolmetscherin doch noch ihre Namen. Auf der Treppe überreichte sie ihnen die Vorladung zu einem weiteren Gespräch in Harburg**, konnte Rückfragen nicht beantworten und wünschte der Familie »viel Glück«. Sie wird es brauchen.
* Namen geändert
** Am 3. Juni ist die Zentrale Erstaufnahme in die Harburger Poststraße umgezogen. Berichte über die dortigen Bedingungen liegen noch nicht vor.
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