Ab Oberkante Düne
Bei den Rettungsschwimmern der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft in Graal-Müritz
Ostseeheilbad Graal-Müritz, Vorsaison. Der Sonntagshimmel ist wolkenverhangen, eine steife Brise geht, der Strand liegt wie leer gefegt. Mit Mützen und Schals vermummte Spaziergänger bevölkern Strandpromenade und Seebrücke. Als mittags die Wolkendecke aufreißt und die Sonne angeknipst wird, ändert sich die Szenerie blitzartig: Von überall her strömen leicht bekleidete Menschen, schließen Strandkörbe auf, breiten Decken aus, testen die Wassertemperatur, spielen Ball, bauen Kleckerburgen, löffeln Eis oder schlürfen Milchshakes. Und nun sieht man auch die Alten im Rollstuhl, die an einem Sonntag wie diesem von ihren Töchtern oder Söhnen aus einer der Kliniken im Ort mal kurz ans Meer geschoben werden. Kliniken gibt es hier viele: Herz, Lunge, Stütz- und Bewegungsapparat, onkologische Einrichtungen und, in der näheren Umgebung, gleich mehrere psychiatrische.
Nici kennt ihr Publikum. Sie ist Graal-Müritzerin, »vor 42 Jahren gezeugt und geboren auf dem Wasserrettungsturm«. Natürlich ist sie nicht auf dem Turm gezeugt und geboren worden, aber so gut wie. Es war ihr Vater Heinrich Teichert, der 1957 den Wasserrettungsdienst Graal-Müritz aufbaute und dabei ihre Mutter kennenlernte, die im »Seestern« kellnerte. Dies aber stimmt hundertprozentig: Nici, eigentlich Nicole Toczek, ist auf dem Turm groß geworden. Ihre Liebe zum Meer und zum Schwimmen seien wie ihr Wunsch zu helfen »vererbt«. Der Vater hat die Ortsgruppe noch über die herrenlose Wendezeit und 1991 bei der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) wieder in einen sicheren Hafen gebracht, bevor er sich 2008 zurückzog und an Nici übergab. Seitdem ist Nici die Ortsgruppenvorsitzende und Einsatzleiterin der Graal-Müritzer DLRG-Wasserrettung. »Hier gibt es nur ein Gesetz, und das ist meins«, erklärt sie. »Denn ich bin es, die den Arsch hinhält.« Will heißen: Sie trägt die Verantwortung. Und die nimmt sie sehr ernst.
Zur Ortsgruppe gehören etwa 100 Mitglieder, 80 davon sind aktiv. Eine Besonderheit: Unter den Aktiven befinden sich 50 Kinder und Jugendliche unter 27 Jahren. Auffallend viele. So wie Nici über ihren Vater zur Wasserrettung kam, stießen viele der Jungen ebenfalls über ihre Eltern dazu. Oder umgekehrt. Volker, Lehrer für Mathe, Physik und Informatik in Rövershagen, ist seinem Sohn Erik gefolgt, als der nicht mehr Judoka sein wollte und sich den Rettungsschwimmern anschloss. Mit 46 hat Volker allerdings nur noch selten Dienst auf dem Turm. »Das machen diejenigen, die noch topfit sind. Meine Generation trainiert den Nachwuchs oder kümmert sich um die Organisation.« An diesem Sonntag sind Vater und Sohn in ihren roten DLRG-Trikots auf dem Kinderparcours am Turm 4 zu finden: Es ist Kindertag, und die Wasserretter haben Spiele und Übungen vorbereitet. Nicht ohne Stolz erzählt Volker, dass sie im vergangenen Jahr als kinder- und jugendfreundlichster Verein im Landkreis Rostock ausgezeichnet wurden. Es ist auch sein Verdienst.
Während es in der Hauptsaison Retter aus ganz Deutschland nach Graal-Müritz zieht, wacht in der Vor- und Nachsaison, wenn Schul- und Unibetrieb laufen, ausschließlich Nicis Mannschaft über die Badegäste. Auf der Hauptwache an der Seebrücke haben die Diensthabenden schon früh um halb neun das Rettungsboot ins Wasser gelassen, das Allradfahrzeug klar gemacht, Rettungsbretter und -bojen griffbereit draußen am Turm angebracht. Danach frühstückten sie gemeinsam - nicht wie gewöhnliche Leute rund um einen Tisch, sondern hinter der Sichtfront nebeneinander, den Blick dabei aufs Meer gerichtet. Nici: »Mit dem Rücken zum Wasser ist bei Rettungsschwimmern verpönt.« Nach dem Frühstück hat sie als Chefin die Gefahrenlage eingeschätzt und die Besatzung für die anderen zwei Türme eingeteilt. Um neun hat der Dienst begonnen, um achtzehn Uhr erst wird er enden. Falls Nici »zur Festigung der Gemeinschaft« nicht noch eine Übung ansetzt.
Die Gefahrenlage, erfahre ich, ist jetzt in der Vorsaison und später in der Nachsaison geringer als in der Hauptsaison. Warum? Nicis Antwort beginnt mit Statistik: 2013 sei die Zahl der DLRG-Rettungseinsätze bundesweit nach oben geschnellt - 686 Menschen mussten vor dem Ertrinken bewahrt werden, 275 mehr als 2012. Schuld seien der heiße Sommer und das Hochwasser an der Elbe gewesen. Nun liege Graal-Müritz ja nicht an der Elbe, doch heiß sei der Sommer auch hier gewesen. Wie die Sommer überhaupt in Deutschland immer heißer würden. Knalle die Sonne, wimmele es an den Stränden. Mehr junges Publikum finde sich ein - mehr Alkohol, mehr Leichtsinn, mehr Selbstüberschätzung. Zur Vor- und Nachsaison dagegen kämen weniger Badegäste, mehr ältere, vernünftigere. Darunter Bewohner der Sanatorien, der Reha- und sonstigen Kliniken, Leute mit angeknackster Gesundheit. Die seien nicht mehr so badefreudig. Anderseits bestehe ein deutlich höheres Risiko, dass sie Herzinfarkte erleiden oder ihr Kreislauf zusammenbricht. »Bei einem Herzinfarkt im Wasser geht der Betreffende lautlos unter. Kein Rufen, kein Winken - eine kleine Welle, und schon sieht man ihn nicht mehr. Für uns heißt das, genau hinzuschauen. Manchmal werden wir auch alarmiert: ›Mein Mann ist weg, Handtuch und Schuhe liegen am Strand …‹ Kann sein, dass der nur spazieren geht. Kann aber auch sein, ihm ist was passiert.« Zu den Aufgaben der Wasserretter gehöre es, im Notfall Erste Hilfe zu leisten. Nicht nur im Wasser, auch am Strand. »Ab Oberkante Düne: unser Revier. Aber wir helfen auch außerhalb, oft sind wir schneller vor Ort als die Feuerwehr.«
Jürgen Denker und Steffen Otto haben oben im Rettungsturm Posten bezogen. Mit Ferngläsern beobachten sie das Revier. »Wenn sich jemand in der Sonne 20 Minuten lang nicht bewegt, wir haben das Auge dafür.« Und dann? »Dann gehen wir runter und holen ihn raus.«
Jürgen, 45, arbeitet in Nordrhein-Westfalen als Chemieingenieur. Mit einer Bremerin als Mutter ist er schon »von klein auf ein Meermensch«. Auf dem Turm in Graal-Müritz verbringt er seinen Urlaub, weil ihn vor Jahren jemand aus seiner Ortsgruppe in NRW hierher empfohlen hat und es ihm hier gefällt. Auch wegen der Ostsee: klarer als die Nordsee, geringerer Salzgehalt, weniger Strömungen, »immer anwesend«. Als Rettungsschwimmer auf dem Turm will er »das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, der Gesellschaft etwas zurückgeben«. Angenehm sei vor allem die Gemeinschaft: »Bei uns sind Schüler, Lehrlinge, Studenten, Tischler, Kellner, Hausmeister, eine Polizistin, jemand vom Straßenbauamt, ein Yachtausstatter, ein Strandkorbbesitzer - viele Leute mit anderem Background.«
Steffen, 41, ist Jurist bei einer Versicherung in Hamburg. Aufgewachsen ist er in Rostock, die Mutter besaß ein Wochenendhaus in Markgrafenheide. Wenn er mit seinem Bruder mit dem Fahrrad zum Strand fuhr, hat er die »Rettungsschwimmer in orangenen Hosen mit goldenem Abzeichen« gesehen und gedacht: »Geil, das machste auch mal.« Gemacht hat er es, da war er über 30 - Studium durch, im Job eingerichtet. Er hat Funken gelernt, Kurse als Bootsführer und Rettungssanitäter absolviert. Und wie Jürgen hat er den »Rettungsschwimmer in Gold«. »Den hab’ ich drei Mal«, ruft Nici von unten.
Letztes Jahr waren es »vier leblose Personen«, die sie retten mussten. Alle sind durchgekommen. »Wir sind aber keine Vollkasko, können nicht jede Blessur verhindern und den Leuten das Denken nicht abnehmen«, sagt Jürgen, den genau wie Steffen »die Unvernunft mancher Leute« ärgert. Ausgesprochen pfiffig sei es, bei starker Sonneneinstrahlung auf die Kopfbedeckung zu verzichten, dann womöglich in der Sonne einzuschlafen. Oder auf den Buhnen rumzuturnen: Buhnen sind glitschig. Rutscht man ab, kann man in den Sog geraten, der sich an ihrem Fuße entwickelt. Auch für Erwachsene ist das lebensgefährlich. Jürgen sagt: »Wenn wir sie darauf hinweisen, werden sie bockig. Wenn wir ihnen klar machen können, dass sie für Kinder schlechte Vorbilder sind, zieht das unter Umständen.« Jürgen wundert sich auch darüber, »wie den Leuten immer Kinder abhanden kommen«. »Das Geschrei ist dann groß«, weiß Steffen. »Wir mobilisieren alles, was Beine hat, viele Kräfte werden gebunden.« Gefunden haben sie die Kinder bislang immer: »An alles andere würden wir uns erinnern.«
Beide sehen einen Trend, für den sie kein Verständnis aufbringen: »So etwas wie Eigenverantwortung von Eltern gibt es heute nicht mehr. Sie drehen die Strandkörbe zur Sonne, sitzen mit dem Rücken zum Meer und vergessen ihre Kinder.« Wenn die Lütten dann unbeaufsichtigt baden, sei ablandiger Wind besonders tückisch: Er treibe aufblasbare Tiere oder Luftmatratzen vor ihnen her, die Kinder, um sie einzuholen, liefen oder schwömmen hinterher, immer wei- ter … »Es gibt Tage«, so Jürgen sarkastisch, »an denen wir Luftmatratzen am laufenden Band retten. Die kosten ja auch zwei Euro fuffzig.«
Was sollten Urlauber zu ihrer Sicherheit beachten? Steffen und Jürgen grinsen einander an. Gern werde an Schildern vorbeigegangen, das sei nicht empfehlenswert. Denn darauf fände man Informationen über aktuelle örtliche Bedingungen und darüber, was die aufgezogenen Flaggen bedeuten. Rot-Gelb signalisiere, der Strand ist bewacht, wobei die kleinen rot-gelben Flaggen direkt am Wasser den bewachten Bereich markieren. »Der ist wie ein Schwimmbad«, erklärt Steffen, »außerhalb bewachen wir nicht - das zumindest sollte man wissen.« Bei erhöhter Gefahrenlage werde zusätzlich Gelb geflaggt: Nur gute Schwimmer sollten ins Wasser gehen, Kinder und Gruppen draußen bleiben. Werde es einmal richtig gefährlich, gehe Rot hoch und Rot-Gelb weg: Badeverbot, keine Bewachung mehr. Im Klartext: Die Retter bleiben auf dem Turm, aber sie sind nicht verpflichtet, jemandem, der sich leichtfertig in Gefahr begibt, zu Hilfe zu eilen. Nach Paragraf 232c StGB müssen sie sich in diesem Fall nicht wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten, denn dann sei Hilfe zu leisten nicht zumutbar. Soweit der Gesetzestext. Oft genug haben die Graal-Müritzer ihr Leben trotzdem aufs Spiel gesetzt und die meisten der in Not geratenen Unbelehrbaren gerettet.
Ein ruhiger Tag geht zu Ende. Der Turm ist besetzt, der Rest der Mannschaft hat sich unten vor dem Turm auf einer Bank zusammengefunden. Freizeit. Nici erzählt: »Wenn wir hier abends sitzen oder noch Volleyball spielen, kommen Leute vorbei, die uns anranzen: Kein Wunder, dass so viel passiert. Dabei tun wir, was wir können. Selten gibt es ein Danke dafür.« Sara setzt sich zu den anderen. Sara ist in Bad Kreuznach zu Hause, 760 Kilometer von Graal-Müritz entfernt, und einer von Nicis Schützlingen. »Mit 14 hat sie bei uns angefangen. Jetzt ist sie 19 und bleibt sechs Wochen hier. Die Eltern vertrauen uns: Sie geben uns ihre Kinder!« Ein Dank, eine Anerkennung, die die raubeinige Wasserrettungschefin für einen Augenblick ganz weich machen.
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