Aktiv in Passivstadt
Einzigartig: In Heidelberg wächst ein ganzes Quartier mit Häusern ohne klassische Heizung
Heidelberg. Es ist eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Deutschlands: Als Alessa Nägele Ende 2012 einzog, wirkte die Heidelberger Bahnstadt noch wie eine Geisterstadt. Heute ist das neue Viertel in der Nähe des Hauptbahnhofs zwar noch immer zu großen Teilen Baustelle. Inzwischen leben hier aber schon rund 2000 Menschen, Monat für Monat ziehen neue Bewohner ein.
Mit einer Fläche von rund 116 Hektar wird das Quartier am Ende größer sein als die Heidelberger Altstadt. Das Besondere: Alle Häuser werden im Passivhaus-Standard gebaut, sind also besonders energieeffizient. Nach Angaben der Stadt entsteht so die größte zusammenhängende Passivhaus-Siedlung der Welt.
Das Passivhaus-Institut in Darmstadt bestätigt diesen Superlativ. »Der Ansatz, ein ganzes Quartier im Passivhaus-Standard zu errichten, ist einmalig und hat schon von daher Vorbildcharakter für andere Städte«, sagt ein Sprecher. Beim Passivhaus darf der jährliche Heizenergie-Verbrauch laut Definition des Instituts höchstens 15 Kilowattstunden pro Quadratmeter betragen. Erreicht wird das mit einer besonders starken Dämmung der Wände und Fenster. Über eine Lüftungsanlage wird sichergestellt, dass der Großteil der von Bewohnern und Elektrogeräten abgegebenen Wärme nicht ungenutzt entweicht und die Räume mit Frischluft versorgt werden. Auf diese Weise kommen die Häuser ohne klassische Heizung aus.
So können Experten zufolge im Vergleich zu einem durchschnittlichen Neubau mehr als 75 Prozent der Energie eingespart werden. Kritiker monieren, Passivhäuser könnten den Bewohnern im Alltag Probleme bereiten. So werde das Be- und Entlüftungssystem gestört, wenn sie zwischendurch die Fenster öffneten.
»Es gibt doch diesen Film mit den Aliens, in dem die Stadt komplett verlassen ist - so war das hier damals. Ein bisschen gruselig«, erinnert sich die 29-Jährige Alessa Nägele an ihren Einzug. »Das hier muss man auch wollen. Denn die Pioniere leben auf der Baustelle.« Ein Jahr nach dem Einzug kam Nägeles Tochter Emilia zur Welt. »Eine echte Bahnstädterin«, sagt die Mutter stolz.
Nicht für jeden Käufer oder Mieter ist die Energieeffizienz der Häuser das ausschlaggebende Kriterium. »In manchen Punkten ärgert es mich sogar, weil wir keinen offenen Kamin mehr haben können, wie wir ihn vorher hatten«, sagt Maren Klug, die noch darauf wartet, ihre Wohnung zu beziehen. Momentan werkeln darin die Bauarbeiter. Doch bis der Sommer vorbei ist, soll sie einziehen können. Die 43-Jährige steht zwischen Bauutensilien auf ihrer Dachterrasse und blickt auf die Nachbarhäuser. Sie sind sehr modern gehalten, gradlinig, in hellen Farben. Viel Abwechslung gibt es nicht. Ein bisschen wirkt das Viertel wie eine Feriensiedlung. In vier bis fünf Jahren soll die Wohnbebauung in der Bahnstadt komplett fertig sein.
Früher war hier der Güter- und Rangierbahnhof, dessen Gelände 1997 stillgelegt wurde. Im 15. Stadtteil von Heidelberg entstehen Wohnungen für bis zu 6000 Menschen. Aber auch Unternehmen und Wissenschaftsinstitutionen siedeln sich an. Rund 7000 Berufstätige sollen am Ende in dem Quartier arbeiten.
In der Stadt Heidelberg ist Wohnraum rar, die Mieten sind zum Teil extrem hoch. Neben der Bahnstadt setzt die Stadtverwaltung auf Flächen, die nach dem Abzug des US-Militärs frei werden. Auch ein kleiner Teil des neuen Quartiers beherbergte zuvor amerikanische Liegenschaftsverwaltungen und ein US-Kaufhaus.
»Ich habe im Prinzip hier meinen Traum gesehen«, sagt Wohnungsbesitzerin Klug. »Dabei ist es eigentlich nicht mein Baustil. Heute ist das sehr modern. Die Frage ist: Wie ist das in 20 Jahren?« Überzeugt habe sie die Nähe zum Zentrum bei gleichzeitigem Blick auf viele freie Flächen. Zudem sei die Wohnung sehr intelligent geschnitten. »Wir haben sie gesehen, reserviert und sechs Wochen später gekauft.« Noch dazu habe die Bahnstadt-Kita, die ihr Sohn besuche, geniale Öffnungszeiten. Auch die Nachbarn gefallen Klug. »Ich finde die Leute hier total spannend, sehr offen.«
Wenn die Bahnstädter Fragen haben, kommen sie in den Nachbarschaftstreff. »Das fängt an mit: Wo ist hier der nächste Kinderarzt? Oder: Warum ist hier noch keine Bücherei?«, erzählt Leiterin Stefanie Ferdinand. Es herrsche ein großes Gemeinschaftsgefühl, sogar einen Bahnstadt-Chor gebe es. Die Heidelberger Bahnstadt sei zwar schon noch immer »ein bisschen Puppenstube«, sagt sie. »Man kann es nicht vergleichen mit einem alten historischen Stadtteil. Aber es wird langsam lebendiger.« dpa/nd
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