Enttäuscht von der Demokratie
Schlechte Sicherheitslage und große Wirtschaftsprobleme überschatten die Wahl in Libyen
Das zweite Mal nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi bestimmen die Libyer am Mittwoch ein neues Übergangsparlament. Die 200 Abgeordneten des so genannten Repräsentantenhauses lösen den Nationalkongress ab, der vor zwei Jahren bei den ersten freien Wahlen in der Geschichte Libyens landesweit gewählt worden war. Während der dreiwöchigen Wahlkampfphase hatten die Kandidaten kaum Möglichkeiten, ihr Programm vorzustellen. Parteien wurden nicht zugelassen, nachdem im Vorjahr überall im Land Parteibüros von empörten Bürgern geschlossen wurden. Die Leute hatten die Parteifunktionäre aller politischen Richtungen als Lobbyisten wahrgenommen. Unter Gaddafi waren Parteien verboten. »Ohne Verfassung und staatliche Strukturen werden die Wähler sowieso nach der Persönlichkeit der Kandidaten und nicht nach irgendeinem Wahlprogramm abstimmen, das niemals umgesetzt wird«, sagt Ibrahim Shebani aus Tripolis, der Herausgeber des Magazins »The Libyan«.
In Cafés und Moscheen beherrscht nur ein Thema die Diskussionen: die schlechte Sicherheitslage. Wie wenig die Neupolitiker zum Chaos im Lande zu sagen haben, zeigte sich bei den Kandidatenpräsentationen, die erstmals in Bengasi stattfanden. »Das sind für viele die ersten Schritte in der Politik«, beklagt eine Studentin, die verzweifelt nach Informationen über die auf der Kandidatenliste verzeichneten Namen ist. »Ich weiß noch nicht wen, aber ich wähle schon aus Prinzip«, sagt sie trotzdem.
Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten hat sich registrieren lassen. Der Frust über das Auftreten des Nationalkongresses sitzt tief. Ursprünglich hatten die Abgeordneten ihr Mandat im Frühjahr eigenmächtig verlängert. Erst nach wütenden Bürgerprotesten stimmten sie der Wahl eines Nachfolgeparlamentes wenige Tage vor Ramadan zu. Für Schlagzeilen sorgte dann die erste Sitzung, in der die Kongressabgeordneten ihr Monatsgehalt verdoppelten.
Auch die nebulöse Abwahl von Premierminister Ali Seidan ließ die Umfragewerte des Übergangsparlamentes ins Bodenlose fallen. Die dominierende islamistische Fraktion bekam erst nach der offiziellen Schließung der Tagung die nötigen 120 Stimmen zusammen und setzte nach Abschaltung der Kameras Ahmed Al Thinni als Premier ein. Als den religiös-konservativen Kräften auch dessen Entscheidungen nicht gefielen, ließen sie ihn ebenfalls fallen. »Der Kongress hat den Glauben der Libyer an die Demokratie tief erschüttert. Aber das Eingreifen des Verfassungsgerichts hat den Politikern auch gezeigt, dass sie nicht das letzte Wort haben«, kommentiert der Experte Anas al-Gomati das Veto der Richter.
Wie die Wahlkommission HNEC am Dienstag bekannt gab, werden auch in Bengasi alle Wahlbüros geöffnet sein. Zur Zeit befindet sich die Hauptstadt der Provinz Cyrenaika im Kriegszustand. Immer wieder greift die so genannte Nationale Armee von General Khalifa Hafter die islamistischen Milizen Ansar Sharia aus der Luft an. Hafter unterstellt einigen Kongressabgeordneten und dem Verteidigungsministerium, den Aufbau von Polizei und Armee bewusst zu hintertreiben. »Mit Al Qaida verbündete Islamisten haben aus Libyen eine Basis für ihren Kampf für ein Kalifat von Mali bis Syrien gemacht. Wir stellen uns ihnen nun in den Weg«, so der 72-Jährige, der 2011 aus dem US-amerikanischen Exil zurückkehrte.
Ansar Sharia und die verbündete Milizenpolizei Derra Libya (Schutzschild Libyens) demonstrierten mit der Besetzung des staatlichen Krankenhauses und des Hafens ihre Präsenz; mindestens zehn Tote waren bei der Aktion zu beklagen. Die islamistischen Kämpfer bestätigten damit Spekulationen, dass die täglichen Erfolgsmeldungen von Hafters Allianz wohl nicht ganz der Realität entsprechen. Viele Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die religiös-konservativen Kräfte bei den Wahlen schlecht abschneiden. Die Willkür ihrer Milizen hat den ehemaligen »revolutionären Kämpfern« viel Sympathie gekostet.
»Libyens steht am Scheideweg«, so ein ausländischer Diplomat. »Wenn sich alle Konfliktparteien verständigen, gibt es durch das Öl genug Wohlstand für künftige Generationen. Wenn der Konflikt in Syrien und Ägypten aber auf Libyen übergreift, könnte es auch zu einem langen Bürgerkrieg kommen.« Hafter behauptet, dass bereits Selbstmordattentäter aus Syrien über Misratah nach Libyen eingereist wären. In Tripolis hat sich die Lage nach monatelangen Scharmützeln beruhigt. Immer wieder werden die Bürger aber von Stromausfällen und Benzinknappheit geplagt. In den kilometerlangen Staus vor den Zapfsäulen kommt es zu Auseinandersetzungen. Wie groß die Herausforderungen des neuen Übergangsparlamentes sein werden, zeigt auch die Blockade der Ölhäfen.
Obwohl im Tubruker Hafen Hariga dieser Tage erstmals wieder ein Tanker anlegte, halten die »Föderalisten« um Ibrahim Jardran drei andere Häfen weiterhin besetzt. Sie fordern, dass die Cyrenaika-Provinz an dem Erlös mit 15 Prozent beteiligt wird. Seit vergangenem Sommer schwinden durch den Einbruch des Ölexports von zuvor täglich 1,3 Millionen Barrel Öl auf rund 100 000 Barrel die Devisenreserven rapide. Schon jetzt druckt die Zentralbank Geld nach. Erstmals nach dem Sturz von Gaddafi konnten in den Ministerien keine Löhne gezahlt werden. » Es ist mir völlig egal, wer in das Repräsentantenhaus gewählt wird«, sagt denn auch der Wahlhelfer Mohamed Assul in Daha, einem Bezirk von Tripolis. »Hauptsache sie finden schnell eine Einigung mit den Föderalisten. Denn wenn das Geld knapp wird oder die große Inflation kommt, wird aus dem jetzigen Chaos eine richtige Katastrophe.«
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