Nationales Symbol für Vielerlei
Das Brandenburger Tor war Sinnbild für Teilung und Einheit - und heute?
Ohne Weiteres ist derzeit kein Durchkommen durch das Brandenburger Tor. Bereits auf dem Pariser Platz ist ein Bereich unmittelbar vor dem Tor durch Absperrungen abgetrennt. Nanu, eine neue »Mauer« ausgerechnet an jener Stelle, wo von 1961 bis 1989 die Berliner Mauer verlief? Aber natürlich, es ist ja Fußballweltmeisterschaft. Und die Absperrungen, die auf der anderen Seite des Brandenburger Tores einen noch größeren Teil abtrennen, dienen dem Schutz der riesigen Leinwand, auf der die Spiele der Weltmeisterschaft übertragen werden. Die neuen Absperrungen lassen sich auch leicht umgehen und auf ihnen sind keine Graffitis zu sehen, sondern Werbeslogans wie »WM, das sind wir alle« oder »Berlin, du bist so wunderbar«. Der Fan-Park vor dem Brandenburger Tor wird dieses Mal von einem japanischen Autokonzern gesponsert. Seine Produkte sind links und rechts der Leinwand zur Schau gestellt. An diesem Mittwochnachmittag ist indes nicht viel los auf der Fanmeile - das Wetter ist mies und eine Spielübertragung steht auch nicht bevor. Dennoch haben einige Getränke- und Imbissstände geöffnet.
Ob Absicht oder nicht - den durch eine doppelte Pflasterreihe hervorgehobenen halbkreisförmigen Verlauf der Berliner Mauer über den Platz des 18. März hat man frei gelassen. Ansonsten erinnert nicht viel an jenen Ort, der durch die Mauer Deutschland und Europa von 1961 bis 1989 trennte - und zum Symbol für die Teilung und Einheit Deutschlands wurde. Die Erinnerung daran wird auf Tafeln der Geschichtsmeile Berliner Mauer rechts und links der Straße des 17. Juni am Platz des 18. März wachgehalten. Sie informieren über den Aufbau der Sperranlagen. Derzeit sind sie indes verdeckt durch die Buden der Fanmeile. Die Pflastermarkierungen und Tafeln sind Teil eines Projektes des Senats, der den gesamten innerstädtischen Mauerverlauf auf diese Weise im Straßenbild sichtbar erhalten möchte. Berlin versucht noch auf andere Weise, die wohl häufigste Frage der immer zahlreicher nach Berlin kommenden Touristen zu beantworten: »Wo war denn hier die Mauer?« Neben der Geschichtsmeile Berliner Mauer mit rund 30 Informationstafeln gibt es noch ein aus zehn Stelen bestehendes Informations- und Orientierungssystem zu Brennpunkten der Mauergeschichte im Innenstadtbereich. Und für Smartphones- und Tablettbesitzer eine Mauer-App.
Freilich können diese nur sehr bedingt die Atmosphäre wiedergeben, die an dem Ort von 1961 bis 1989 geherrscht hat. Besser gelingt dies durch Fotos, wie auch auf dieser Seite eines abgebildet ist. Es war ein Gebiet innerstädtischer Ödnis.
Welch ein Kontrast zum bunten Treiben auf der Fanmeile während der deutschen Spiele. Vor 1989 war es unvorstellbar, sich direkt vor dem Brandenburger Tor eine derart riesige Menschenmenge mit schwarz-rot-goldenen Devotionalien und schwenkenden Nationalflaggen vorzustellen. Die Folgen des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges, Holocaust und Massenmordprogramme inklusive verboten einen starken Bezug auf nationale Symbole.
Das hat sich geändert - und seit dem 9. Juli 2006 kann das Brandenburger Tor somit neben seiner Symbolfunktion für Teilung und Einheit Deutschlands noch für etwas anderes stehen: als Symbol für das unverkrampfte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation. An diesem Tag bedankte sich die deutsche WM-Mannschaft um Trainer Jürgen Klinsmann vor einer halben Million Fans für die Unterstützung bei den Spielen im eigenen Land - und die Fans feierten den »Weltmeister der Herzen«. Fall der Mauer und dann die Fußballweltmeisterschaft der Männer 2006 im eigenen Land mit ihrem viel diskutierten Party-Patriotismus können daher als Wegmarken der Deutschen auf dem Weg zu einer »normalisierten« Nation gelten.
Die Bewertungen darüber gehen jedoch auseinander. Im Großen und Ganzen wurde diese Entwicklung positiv gesehen. Politiker aller Parteien begrüßten die Präsenz von Nationalflaggen und den wiedererstarkten deutschen Patriotismus. Wissenschaftler der Langzeituntersuchung »Deutsche Zustände« um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer blieben mit ihren Erkenntnissen nahezu ungehört. Sie hatten auf Grundlage von Befragungen vor und nach der WM von 2006 Folgendes herausgefunden: Der während der Fußballweltmeisterschaft zu beobachtende Party-Patriotismus ziehe keine positiven Effekt nach sich. »Im Gegenteil, es zeigt sich ein Anstieg des Nationalismus.«
Beim Remis gegen Ghana vor einer Woche, als die deutsche Elf zeitweise zurücklag, konnte man auf Facebook sogar offen rassistische Posts lesen. Fragt man am Brandenburger Tor Passanten, vornehmlich Touristen, oder Mitarbeiter der Getränke- und Imbissstände, so wird das lockere Zeigen der deutschen Flagge nicht kritisch gesehen. Nadine zum Beispiel verweist darauf, dass auch viele ausländische Touristen während der Spiele der deutschen Mannschaft mitschauen und -feiern. »Die Stimmung ist bislang sehr gut gewesen«, sagt sie.
Am nächsten Samstag lesen Sie an dieser Stelle über den »Entenschnabel«.
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