In dieser fluchwürdigen Zeit

Stefan Zweigs Abschied von Europa: Das Begleitbuch zur Wiener Ausstellung

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Er klammerte sich an sein Österreich bis zuletzt. Er redete sich ein, es würde so schlimm nicht kommen. Anfang 1931 hatte Stefan Zweig seinem Freund Romain Rolland noch geschrieben, die Menschen in Deutschland hätten mehr Angst als nötig. Nichts, schrieb er, würde dort passieren. Später, nach 1933, als doch eine Menge »passiert« war und er, wieder in einem Brief an Rolland, eine »regelrechte Hetze« gegen Schriftsteller meldete, beruhigte er sich gleichzeitig mit dem Satz, er nehme die Dinge nicht sehr ernst. Joseph Roth, der längst im Pariser Exil lebte, schrieb ihm: »Kämpfen Sie oder schweigen Sie.« Stefan Zweig kämpfte nicht. Er wartete ab. Er ließ sich davon auch nicht abbringen, als Goebbels den »Juden Zweig« attackierte. Damit, tröstete er sich, könne nur der andere gemeint sein, Arnold, sein Namensvetter. Doch die Sorgen ließen sich nicht mehr unterdrücken, und er fragte sich, ob er bleiben oder nicht doch lieber gehen sollte.

Stefan Zweig hielt sich kaum noch in Österreich auf. Das Haus auf dem Kapuzinerberg in Salzburg betrat er nur selten. Im Februar 1934 erschien dort die Polizei, um nach Waffen zu suchen. Welch ein Affront. Die Entscheidung war damit gefallen, eine Rückkehr in die geliebte Villa mit dem Schreibtisch Beethovens, all den Büchern und angehäuften Kunstschätzen nicht mehr möglich. Stefan Zweig nahm Abschied. Ein paar Jahre blieb er noch in London, dann, im Juni 1940, zog er weiter nach New York und schließlich nach Brasilien. Aus den Briefen, die er fortan schrieb, spricht die schiere Verzweiflung. Er sah, wie der Krieg immer näher rückte, und er sah, dass man Hitler gewähren ließ. Die Zukunft malte er nur noch in düsteren Farben. Vorerst hielt ihn die Arbeit am Leben. Er entschloss sich zu einem Buch, das die Geschichte seines Lebens erzählen sollte (und das erst nach seinem Freitod erschien): »So will ich wenigstens ein Document hinterlassen, was wir geglaubt, wofür wir gelebt haben …«

»Die Welt von Gestern«, diese »Erinnerungen eines Europäers«, und die ebenfalls im Exil entstandene »Schachnovelle« stehen jetzt im Mittelpunkt einer Ausstellung des Wiener Theatermuseums, die unter dem Titel »Wir brauchen einen ganz anderen Mut« die letzten Jahre des Schriftstellers illustriert. Begleitet (und vertieft) wird sie vom schweren, großformatigen Band »Abschied von Europa«, herausgegeben vom Direktor des Salzburger Stefan-Zweig-Centers, Klemens Renolder, im Wiener Christian Brandstätter Verlag. Die Publikation, dominiert von Aufsätzen über das Verhältnis Zweigs zu Österreich, über das literarische Werk im Exil, die dramatischen Arbeiten und einem Komplex mit Texten des Autors, zeigt darüber hinaus ausgewählte Ausstellungstücke: Prospekte, Buchumschläge, Handschriften, Typoskripte, Illustrationen, Notizbuchseiten, Theaterzettel, Filmplakate und viele Fotos, darunter eine schöne Porträtserie von 1913.

Ein Blatt aus dem Jahr 1937, eine Liste mit Namen und Titeln, eng beschrieben, deutet auf eine Premiere, die diese Schau bietet: Zum ersten Mal sind hier Stücke der berühmten Autografensammlung zu sehen, die seit 1937 dem Theatermuseum gehören. Man weiß von ihr seit langem, kein Biograf vergisst, sie zu erwähnen, das Wiener Antiquariat Inlibris hat sie 2005 in einem reich kommentierten Vierhundert-Seiten-Band sogar umfassend dokumentiert, aber öffentlich vorgestellt worden ist sie noch nie.

Ungefähr fünfzig Jahre lang hat Stefan Zweig Handschriften gesammelt, Briefe, Umschläge, Manuskriptseiten, Zeugnisse von Dichtern und Komponisten. Die Anfänge reichen bis in die Studentenzeit zurück. Später, nun schon selber Schriftsteller, bat er immer wieder namhafte Kollegen um eine Schriftprobe. »Mein Brief war lang«, schrieb er im März 1907 an Rilke, »lassen Sie ihn mich mit einer Bitte beschließen … Ich möchte Sie um ein kostbares Geschenk bitten: um das Manuskript eines Ihrer Versbücher.« Er sei kein Autografensammler, erklärte er, aber hin und wieder habe er sich bereits die Handschrift eines Gedichts gekauft, Goethes »Mailied« sowie Verse von Lenau und Storm. Am Ende besaß Zweig nicht nur das »Mailied« von Goethe, sondern weitere Gedichte, zwei Seiten aus dem zweiten Teil des »Faust«, mehrere Zeichnungen und eine Haarlocke, dazu einen Haufen Manuskripte von Endre Ady, dem ungarischen Dichter, bis zu einer Liedkomposition Carl Friedrich Zelters.

Als Salzburg immer unsicherer wurde und er im Londoner Exil kaum noch Zugang zu seinen Schätzen hatte, beschloss Stefan Zweig 1936, sich von der Sammlung zu trennen. Teile kamen so ein Jahr danach als Schenkung in die Theatersammlung der Nationalbibliothek. Die Seite aus der Übergabeliste, die man jetzt betrachten kann, umfasst neunundzwanzig Nummern, darunter sind Handschriften von Joseph Roth, Roda Roda, Schickele, Schnitzler, Toller, Werfel, Zech und Zuckmayer.

In dieser fluchwürdigen Zeit, von der er 1938 in einem Brief sprach, hatte Stefan Zweig alles verloren: sein Land, das noble Haus, sein Publikum, schließlich auch Freunde und Gefährten: erst Ernst Toller, dann Joseph Roth, schließlich, 1941, auch noch Max Herrmann-Neiße.

Er lebte in einem Haus im brasilianischen Petrópolis und starb jeden Tag ein bisschen mehr. Er schrieb noch die »Schachnovelle« zu Ende und legte sie zum fertigen Lebensbericht, der nicht fertig gewordenen großen Balzac-Biografie und dem unvollendeten Roman »Clarissa«. Dann, am 22. Februar 1942, einem Sonntag, nahmen Lotte und Stefan Zweig das Gift. Als man sie fand, waren sie schon tot.

Das letzte Wort in diesem materialreichen Band hat Gabriela Mistral, die chilenische Dichterin und Nobelpreisträgerin von 1945, die damals das Konsulat ihres Landes in Rio de Janeiro leitete. In einem langen Brief an den argentinischen Schriftsteller Eduardo Mallea erzählte sie, wie sie am Tag danach durch das kleine Haus am Hügel ging, wie sie die Toten im Schlafzimmer sah und wie sie an ihre vorletzte Begegnung dachte, bei der Stefan Zweig sogar fröhlicher schien als sonst. Die letzten Meldungen vom Kriegsverlauf, schrieb sie, müssen ihn furchtbar deprimiert haben: »Ach, er hatte erlebt, wie der Krieg sich von Küste zu Küste ausbreitet … Er war des Grauens überdrüssig. Er konnte nicht mehr.«

Stefan Zweig - Abschied von Europa. Hg. von Klemens Renolder. Christian Brandstätter Verlag/Theatermuseum. 304 S., geb., 34,90 €. Die Ausstellung ist bis 12. Januar 2015 im Wiener Theatermuseum zu sehen.

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