Verzauberung des Irdischen

Die Galerie Nierendorf lädt zu einer Werkschau des bedeutenden Bildhauers und Grafikers Gerhard Marcks

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Empfangsdame der Galerie Nierendorf ist nackt. Sie hält einen Apfel in der Hand und schaut etwas fragend, als wüsste sie nichts damit anzufangen. Drei Meter hinter der Flurtür: die Thüringische Venus. Seit Jahren. Die sehr irdische, sehr sinnliche Göttin der reinen Liebe lädt zu einer Werkschau des bedeutenden Bildhauers Gerhard Marcks (1889-1981) ein. Es ist der dritte Guss, Nummer Eins steht im Braunschweiger Museumspark.

Marcks schuf seine Idealthüringerin 1930, als er Lehrer an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle war. Keine Figur steht so passend für die Passion der Galerie, die der expressionistischen Gegenständlichkeit zugetan ist. Nierendorf hat den unter den Nazis verfemten Künstler seit 1964 regelmäßig ausgestellt. Den Orpheus unter den Bildhauern, wie ein Kritiker einmal schrieb, mit seinen an klassische Formen erinnernden Bronzen, den Ölkreidezeichnungen, Bleistiftstudien, Lithographien, Holzschnitten. Die Galerie am Bahnhof Zoo hat unter den drei Vertretungen für das Marcks-Erbe den umfangreichsten Bestand.

Die Thüringische Venus ist lebensgroß, im Gegensatz zu den meisten anderen Plastiken, die nur um einen Meter hoch oder kleiner sind. Das Bezaubernde daran: Von dieser »Kleinplastik« geht eine monumentale Strahlkraft aus, die zugleich Wärme atmet, Gefühl offenbart und beim Betrachten auslöst, Nähe vermittelt. Besonders die Frauengestalten sind von erhabener Schönheit und durch kleine Gesten - das Aufbinden der Haare, Abstreifen des Gewandes - real, aus dieser unserer Welt. Klage, gar Anklage, hat Gerhard Marcks in einigen Skulpturen für den öffentlichen Raum Gestalt gegeben, etwa dem Mannheimer Friedensengel oder dem verzweifelten Hiob in Nürnberg.

Marcks war ein Apostel der Schönheit. Er hat von einer »Glücklichen Täuschung« gesprochen, die der Künstler in seinem Werk hervorbringe, von »einer Art Verzauberung«. Dass er seinen Mädchenfiguren fantastische Namen gab - Svanhilde, Caledura, Thora - entsprach vielleicht der Absicht, sie der Trivialität zu entheben, dem menschlichen Körper eine irdische Heiligkeit zu verleihen. Das gelingt dem bei Bruno Paul und Georg Kolbe in die Lehre gegangenen Marcks auf einmalige Weise.

Mit dem plastischen Schaffen nicht besonders vertraut, fiel dem Rezensenten auf, dass einige Bronzegüsse den Motiven Ernst Barlachs ähneln. »Alte und junge Frau« (1945) erinnert in Haltung und Formgebung an »Wiedersehen (Christus und Thomasius)«, auch »Der kleine Rufer« (1967, nicht in der Ausstellung) hat in Barlachs Rufergestalten ein Pendant, und es gibt hier wie dort einen Flötenspieler. Biografische Vertiefung, und sieh da: Marcks hat Barlach verehrt, und umgekehrt schätzte der Güstrower Eremit den Berliner Seelengestalter »vor allen anderen Kollegen«; sie standen zeitweise im Briefwechsel, und Marcks hielt die Grabrede zu Barlachs Beerdigung.

Gerhard Marcks’ Plastiken wurden in den Vereinigten Staaten als typisch deutsch empfunden; sie stehen heute in Boston, Baltimore, Washington, New York. Auch Lyonel Feininger, Willy Grohmann und andere weisen, trotz der Anklänge an die griechische Archaik, auf die Verwurzelung in der deutschen Kulturtradition hin. Die Stifterfiguren im Naumburger Dom waren ihm unerreichte Ikonen. Umso unbegreiflicher, dass die fackelschwingenden Barbaren seine Arbeiten aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmten, zum Teil vernichteten. Fünf Skulpturen wurden in der Ausstellung »Entartete Kunst« gezeigt. Aus dem Lehramt in Halle war er längst entlassen worden.

Die Konsequenz des faschistischen Krieges fügte - Zwanghaftigkeit der Geschichte - den Schicksalsschlägen noch eine Potenz hinzu: Während eines Bomberangriffs 1943 wurde sein Atelierhaus in Berlin-Nikolassee und das darin aufbewahrte Werk zerstört. Er musste von vorn beginnen. Käthe Kollwitz hat die Kraft bewundert, mit der er sich in das neue Leben stürzte. Eine Auswahl der gelungensten Werke sehen wir nun wieder in der Hardenbergstraße, sowohl Erhaltengebliebenes, zum Beispiel die »Kleine Barbara«, die sich im Besitz der Galerie befindet, als auch im feinen Glanz der späten Jahre gegossene Bronzen, etwa das graziöse Liebespaar (1971), die junge Frau schmiegsam, doch bedenkend, der Jüngling zögerlich werbend. Grafische Blätter zeigen die Vielfalt des künstlerischen Schaffens. Eine zusätzliche Delikatesse: Die figürlichen Bleistiftstudien; da sitzt jede Linie frappierend sicher.

Außerhalb der Galerie Nierendorf und des prädestinierten Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen, das den Nachlass verwaltet, ist der Bildhauer etwas in Vergessenheit geraten. Nicht bei einer abstrakte und anders platte Moden meidenden Fangemeinde. Als die Sternengucker, die schon immer einen Blick fürs Große hatten, im Jahre 1991 einen neuen Asteroid entdeckten, nannten sie ihn »Marcks«.

Galerie Nierendorf, Hardenbergstr. 19: Gerhard Marcks. Zum 125. Geburtstag. Plastiken, Ölkreiden, Zeichnungen, Druckgraphiken. Bis 26.9., Di-Fr 11-18 Uhr

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