Mindestlohn: EU-Kommissar kritisiert Ausnahmen
Chemie-Gewerkschatfer Vassiliadis: Kritiker sollen Sturmlauf gegen Gesetz beenden / Linksfraktion will sich enthalten / SPD-Linke spricht von historischem Fortschritt
Berlin. EU-Sozialkommissar Laszlo Andor hat die geplanten Sonderreglungen für einzelne Branchen beim Mindestlohn kritisiert. »Die Europäische Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, einen Mindestlohn einzuführen, der alle Branchen umfasst«, sagte Andor vor der Abstimmung über das Mindestlohngesetz am Donnerstag im Bundestag. »Das ist besonders wichtig, damit Menschen trotz Arbeit nicht in Armut geraten.« Sonderregelungen beim Mindestlohn sind unter anderem für Zeitungsboten und Erntehelfer vorgesehen. Andor sagte der »Welt«: »Aktuelle Erfahrungen, beispielsweise aus Großbritannien, zeigen, dass sich Mindestlöhne nicht schädlich auf die Beschäftigung auswirken.« Voraussetzung sei, dass sich die Höhe der Mindesteinkommen nicht zu nah an den Durchschnittslöhnen bewege.
Nach einem Bericht der »Welt« werden rund 4,5 Millionen Arbeitnehmer im kommenden Jahr den Mindestlohn erhalten. Das gehe aus Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung auf Basis des Sozioökonomischen Panels hervor. Der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, hat vor der Abstimmung im Bundestag die Mindestlohn-Kritiker in den Reihen der Union dazu aufgerufen, ihren Sturmlauf gegen die neue Regelung endlich zu beenden. Der »Neuen Osnabrücker Zeitung« sagte der Gewerkschafter, der bundesweite Mindestlohn sei ein »Riesenerfolg«. Kritik von Verdi-Chef Frank Bsirske, die Regierungskoalition habe den gesetzlichen Mindestlohn durch viele Ausnahmen »brutal amputiert«, spielte Vassiliadis herunter: »Man sollte nicht jeden Missklang überhöhen.« Ausnahmen von der Regel seien immer schwierig und schafften Ungerechtigkeiten. »Dennoch bleibt es unter dem Strich dabei: Dieser Kompromiss bringt unser Land einen Schritt nach vorn«, erklärte Vassiliadis. Die Zeit der Dumpinglöhne gehe zu Ende, davon profitierten fünf Millionen Menschen.
Im Ausnahmen-Zustand
Der Mindestlohn kommt - aber nicht für alle.
Ist das Gesetz der Großen Koalition trotzdem
ein Erfolg? Ein Pro von Tom Strohschneider,
ein Kontra von Jörg Meyer
Die Linksfraktion will sich bei der Abstimmung über das Mindestlohn-Gesetz am Donnerstag im Bundestag dagegen der Stimme enthalten. Es sei zwar richtig, dass es überhaupt einen Mindestlohn gebe, sagte Fraktionschef Gregor Gysi am Mittwoch in Berlin. Der Gesetzentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) enthalte aber zu viele Ausnahmen. Er habe große Zweifel, ob die vorgesehenen Ausnahmen grundgesetzkonform sind. Der Gleichheitsgrundsatz sei eklatant verletzt. Zudem seien die vorgesehenen 8,50 Euro zu wenig. Ein Mindestlohn, der einen Rentenanspruch unterhalb der Grundsicherung nach sich ziehe, gehe am Ziel vorbei. Verdi-Chef Frank Bsirske habe Recht, wenn er von »Wählertäuschung« spreche. Im Bundestag kündigten die Grünen dagegen an, dem Gesetzentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zuzustimmen. Ihre Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer sagte in der Debatte, die Koalition sei mit den Sonderregelungen für einzelne Branchen zwar vor Lobbyinteressen eingeknickt. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn sei aber längst überfällig. Die Grünen wollten sich nunmehr dafür einsetzen, dass der Mindestlohn umfassender und gerechter wird.
Der SPD-Linke Klaus Barthel erklärte gegenüber »nd«, die Regelung sei »ein großkoalitionärer Kompromiss. Aber wir diskutieren hier die ganze Zeit über Ausnahmen und deren Ende. Das Wichtige ist, dass es diese Regel jetzt gibt. Der Mindestlohn kommt, und das ist ein historischer Fortschritt - gerade wenn man sich die Widerstände ansieht.«
Der Präsident der kirchlichen Caritas Deutschland, Peter Neher, rechnet mit einem Anstieg der Schwarzarbeit durch den Mindestlohn. »Bestimmte Arbeitsbereiche könnten in die Schwarzarbeit abgedrängt werden«, sagte Neher dem Evangelischen Pressedienst. Er verteidigte zudem eine Sonderregelung für Langzeitarbeitslose, die schwer vermittelbar sind. Für sie gilt der Mindestlohn nicht in den ersten sechs Monaten einer Beschäftigung. »Es besteht sonst die Gefahr, dass diese Menschen niemand mehr einstellt«, sagte der Präsident des katholischen Hilfswerks. Man müsse hier über weitere Maßnahmen nachdenken, damit sowohl die Arbeitgeber als auch die Langzeitarbeitslosen weitere Unterstützung bekommen.
SPD und Union planen, rund 1.600 Zollbeamte zusätzlich einzustellen, die die Einhaltung des Mindestlohns überprüfen sollen. »Mit Kontrollen allein wird man keine Lohngerechtigkeit schaffen«, sagte Neher. »Dazu braucht es eine gesellschaftliche Kultur.« Jeder müsse sich überlegen, was ihm etwa die Arbeit eines Frisörs wert sei, und bereit sein, dafür zu zahlen. »Wenn einer sagt, ich kenne einen Frisör, der macht mir den Haarschnitt für 5,50 Euro dann verschärft das die Situation.« Agenturen/nd
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