Giftige Äpfel, steinerner Apoll
Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne
Spiel darf fast alles. Spiel ist eine Erlaubnis, die von der Romantik ausgestellt wird: Mag das Leben entgeistert glotzen - wir schauen trotzdem so, als gäbe es noch eine Welt woanders. Spiel-Erlebnisse funktionieren nicht, wenn ich mir ständig vorwurfsvoll ins Gemüt falle: Vergiss die Vernunft nicht. Schlimm genug, dass es für Tore die Überwachungskamera gibt. Zum Glück hören die Dramen trotzdem nicht auf. Rooney hat wirklich geweint, Ottmar Hitzfeld auch, und unvergesslich, wie Spaniens Trainer del Bosque nach dem Ausscheiden seiner Elf an allen Spielern auf der Bank vorüberging, ihnen die Köpfe strich. Trost ist wie ein Vater-Land. Ebenfalls tröstlich, wie sich Schiedsrichter in der Nähe solcher Spieler wie Rodriguez und Neymar auch fast in Väter verwandeln. Oder in Schutzengel - die gelbe Karte an foulende Gegner: ein kleines Racheschwert.
James Rodriguez. »Ein Gemälde wie von Picasso« jubelte ein kolumbianischer Rundfunkreporter beim 1:0 gegen die USA: Ballannahme mit der Brust und halbe Drehung in einer einzigen Bewegung - und dann den Ball volley mit dem linken Fuß unter die Latte gejagt. Ikonisch.
Picasso!? Solche Übertreibung, solche Verstiegenheit kommt jetzt vor. Tanz über Rasenspitzen: die Oberfläche Fußball, der Untergrund Kunst.
Wie viel Kunst verträgt sich mit dem Siegen? Das ist immer die Frage, sie wird meist gegen die Kunst beantwortet. Denn Ungerechtigkeit wollen wir nicht zur Kunst erheben, pure Ungerechtigkeit aber ist zu vermelden: In Brasilien geschahen Siege sehr oft in letzten Minuten. Wenn der freche, tapfere Außenseiter meinte, den Erfolg bereits heimgefahren zu haben. Plötzlich aber blieb der Erfolg da, und der Außenseiter fuhr heim. Es ist wie bei den Bergsteigern: Die meisten Unglücke passieren bei Abstiegen - die Illusion, das Schwerste sei getan, bremst die Konzentration. Apropos Konzentration: Schweinsteiger kommt mit Kopfhörern aus dem Bus, Robben schleppt noch im Kabinengang seine Yoga-Matte. Mit Ball am Fuß wirkt er ent-rückt, eingesponnen, selbstvergessen. Selbst, was ein Abspiel ist, vergisst er gern - und schießt sehr eigene Tore. Einer unter Strom. Die Steckdose irgendwo außerhalb der Realität.
»Komm ins Offene, Freund.« Lockruf des Tores an den Ball. Man sieht geradezu den gekrümmt winkenden Zeigefinger. Plötzlich klingt Hölderlin wie die böse Königin, die Schneewittchen den Apfel schmackhaft macht. Neuer, Ochoa, Howard, Navas, Courtois schlugen der bösen Stiefmutter auf jeweils grandiose Weise den Giftapfel aus der Hand. Tormänner als besondere Kerls dieser WM. Aber auch vorn ist immer alles möglich. Sag niemals: Nie! Eher Knie. Das von Götze »schoss« ein Tor, das von Severovic dagegen lenkte den Ball daneben und besiegelte das Ende der Schweiz. In solchen Momenten drehst du doch fast durch, oder?! Man ist als WM-»Teilnehmer« sowieso ein wenig durch den Wind, irgendwie strukturbeschädigt, ferngesteuert. Eindeutig: zu viel Fernsehen!
Deshalb wirkt jeder, der den Fußball überhaupt nicht mag und also konsequent wegguckt, derzeit so überlegen. Jene, die sich dem Sportrausch nicht hingeben, haben offenbar den Gegenrausch erfunden: Mit jeder Stunde Fußball, der sie sich verweigern, festigen sie ihr Bewusstsein, gegen die Masse einen wahren Eigensinn bewahrt zu haben. Der Fan wird registriert, wie der Dichter Ernst Jünger das Geschäft der Politik betrachtete: »Ich bemühe mich um einen wohlwollenden Blick, aber es ist jenes Wohlwollen, das man kleinen Kindern schenkt, indem man gleichzeitig sein Erwachsensein mitteilt.«
Jünger war unzweifelhaft klug, wirkte aber wie ein steinerner Apoll. Anders gesagt: Er mutete ein wenig langweilig an - wie alle Menschen, die in eigener Befriedung ruhen und sehr unberührbar wirken im Getümmel der Welt. Einer Welt, in der so viele Götter angebetet werden, die aber in acht Tagen nur einen einzigen Meister haben wird. Eine Schöpfungsgeschichte in Raten. Auch heute wieder: 18 Uhr Beginn. Man soll den Tag wirklich nicht vor dem Abend loben.
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