Gute Sprayer, böse Sprayer
Brasilianische Graffiti-Kunst teilt sich in zwei Szenen, die sich klar voneinander abgrenzen
Nächtliche Polizeieinsätze. Fliehende junge Männer auf Dächern und an Häuserwänden entlang. Nicht selten kommt dabei einer zu Tode. Grund für die Hetzjagden sind schwarze Schriftzeichen, genannt pichos, anderswo bekannt als tags, angebracht in oft schwindelerregenden Höhen an den Hochhausfassaden in São Paulo. Es sind die pichadores, die mit ihren subversiven Aktionen aus Protest und Kunst in eine Welt eindringen, die sie nicht haben will.
»Pichar« heißt teeren, anschwärzen und deutet auf die Eigenheit der brasilianischen tags: Pichos sind meist schwarz und groß, mit vertikaler Ausrichtung. Die oft jugendlichen Männer kommen aus den Favelas an den Peripherien der Großstädte. Sie agieren bei ihren nächtlichen Touren ohne Schutz, Seil oder Netz. Es geht ihnen um den Respekt in der Szene - und um die Vergewisserung der eigenen Existenz. Pichação gibt den Innenstädten eine neue Taktung, stülpt ihr ein vertikales Netz fremder Ornamentik über und macht das Schattendasein vieler sichtbar. In der Bevölkerung ist diese Art der öffentlichen Äußerung verpönt, vom Gesetz wird sie als Vandalismus geahndet.
Weniger abenteuerlich und akrobatisch arbeiten dagegen die grafiteiros. Sie sind die Bildproduzenten der brasilianischen Graffiti-Szene und verwenden kaum Schrift - ein besonderes Merkmal des brasilianischen grafite. Die Schriftlosigkeit ist ein Relikt der eigenen Tradition, nämlich der lateinamerikanischen Wandmalerei, des Muralismo. Ihre gesprayten oder gemalten Wandbilder auf Mauern, Viadukten und Fassaden provozieren auf horizontaler Ebene in den Städten einen Dialog mit deren Bewohnern. Polizeieinsätze gibt es auch hier, doch man einigt sich heute oft gütlich.
Pichação und grafite - das ist das Gegensatzpaar der noch jungen brasilianischen Street-Art-Szene, das ab Mitte der 1980er Jahre noch im symbiotischen Nebeneinander in den Städten auftauchte. Der Hotspot ist bis heute die Mega-Metropole São Paulo. Mit dem Ende der zwanzig-jährigen Militärdiktatur 1964 bis 1985 wurde die Straße Sinnbild für Freiheit, und die pichos avancierten als erstes zu Zeichen einer neuen Liberalisierung des Landes.
Während die pichação durch Plattencover US-amerikanischer Heavy-Metal-Bands inspiriert wurde, deren Schriftzeichen der Runenschriften entstammen, hatte auf das grafite die Ästhetik des nordamerikanischen HipHop entscheidenden Einfluss. Das grafite orientierte sich von Anfang an stärker an künstlerischen Avantgarden und eigenen Traditionen und verband diese mit soziokulturellen Strömungen der Jugend- und Straßenkulturen. Hieraus entwickelten die grafiteiros früh eigene Bildsprachen. Die längst etablierten Street-Art-Szenen in New York oder Paris waren noch weit weg. Das war für die Entwicklung des brasilianischen grafite ein großes Glück. Inzwischen gibt es in Brasilien die dritte Generation an Künstlern, und die oft hohe künstlerische Qualität der grafite findet weltweit Anerkennung.
Auch im eigenen Land wurde das bemerkt. Seit 2004 ist der 27. März der Dia do Grafite, der Nationale Tag des Graffiti in Brasilien - eine Hommage an einen der Pioniere des grafite, den Künstler Alex Vallauri, der an diesem Tag 1987 mit 38 Jahren starb. In São Paulo wurde die Freude der grafiteiros über diese Anerkennung bald getrübt, denn der neue Bürgermeister der Stadt, Gilberto Kassab, erließ ein Gesetz zum »ästhetischen, kulturellen und ökologischen Wohlergehen« der Stadt. Unter der Aktion cidade limpa, saubere Stadt, gilt seit 2007 das Verbot jeglicher Werbung im öffentlichen Raum his heute. Mit der Folge, dass auch sämtliche Graffiti-Bilder mit grauen Farbspritzen »gereinigt« werden, was der Aktion den Beinamen cidade cinza, die graue Stadt, einbrachte. Seitdem herrscht ein Kampf um Wände zwischen den grafiteiros und der Stadtverwaltung.
Andere Städte hingegen erkennen das Potenzial der grafiteiros. Bereits 1995 unterstützte die Stadtverwaltung von Recife im Nordosten eine Gruppe von Künstlern, die Workshops mit Jugendlichen zu grafite organisierten. Das war Pionierarbeit von beiden Seiten. Armut und soziale Probleme sind hier trotz der erstarkten Mittelschicht größer als im Rest des Landes. Die traditionelle Kultur und die Grafik des Alltags sind dafür im zeitgenössischen Leben stark präsent und integriert. In den letzten Jahren werden grafiteiros immer öfter zu Vermittlern mit den Jugendlichen in den Favelas und das grafite zu einem Werkzeug für die soziale Inklusion in Recife.
Viele der grafiteiros waren früher pichadores und kennen das Leben in den Armenvierteln. Sie sind Beispiele, dass ein Leben jenseits von Drogen und Gewalt möglich ist. Andererseits wird grafite in jüngerer Zeit zunehmend genutzt, um die Städte zeitgemäß zu verschönern. Die Stadtverwaltung demonstriert damit einen demokratischen Umgang mit Kultur und Kunst und lenkt ab von fehlenden Geldern für Restaurierungen. Grafite hat in der Bevölkerung schon lange eine große Akzeptanz. Schließlich waren es die grafiteiros, die marode Häuser der Altstadt humorvoll wiederbelebten.
Brasiliens Regierung hat die Zeichen der Zeit erkannt und erließ 2009 ein Gesetz, das grafite als legal festschreibt, sofern es mit dem Ziel verbunden ist, den Wert des öffentlichen oder privaten Eigentums durch das künstlerische Erscheinungsbild zu heben. Auch eine Genehmigung des Eigentümers ist erforderlich. Die Politik hebt damit den künstlerischen Wert und allgemeinen Nutzen der grafiteiros und schürt nebenbei geschickt den Kampf gegen die ungeliebte pichação, für die es klar heißt: pichação é crime - sie ist eine Straftat.
Diese ungleiche Entwicklung führt zunehmend zu Spannungen zwischen den Szenen. Hierbei geht es nicht nur um die knapper werdenden Freiflächen in den Städten. Seitens der pichadores mit ihren kompromisslosen Gestaltungen wächst die Verachtung gegenüber den grafiteiros, die sich ihrer Meinung nach für politische und kommerzielle Interessen vereinnahmen lassen, indem sie Werke schaffen, die an keine sozialen Normen mehr anecken. Die grafiteiros argumentieren hingegen, es ginge ihnen um die Ästhetik der Stadt und den Dialog in den Kommunen. Beide haben wohl Recht.
Constanze Musterer ist Kunsthistorikerin. Von 2010 bis 2012 lebte sie in Recife, wo sie zur zeitgenössischen Kunst und traditionellen Kultur im Nordosten Brasiliens forschte. Ihr Text basiert auf dem Vortrag »Street-Art in Brasilien: Künstlerischer Protest zwischen Verbrechen, Kunstmarkt und Sozialarbeit«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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