Vollverschleiert in die Selbstbestimmung
Emran Feroz über das »Burka-Verbot« des Europäischen Gerichtshofes
Wer Sara ins Gesicht schaut, sieht nur ihre blauen Augen. Vor rund vier Jahren entschloss sich die 26-Jährige, zum Islam zu konvertieren. Seit jeher trägt sie einen Niqab, eine Vollverschleierung. In Frankreich – das ist nun dank des Europäischen Gerichtshofes sicher – könnte sie für das Tragen des Niqabs mit einer Geldbuße bestraft werden. Nun erwägen weitere europäische Staaten das sogenannte »Burka-Verbot«.
Für Sara, die meint, vor einigen Jahren mit ihren blonden Haaren und blauen Augen nicht deutscher hätte sein können, ist das Urteil ein Affront. »Worin liegt der Unterschied zwischen einer Regierung, die einen zwingt, ein Stück Stoff anzuziehen und einer, die verlangt, ein Stück Stoff auszuziehen?«, fragt sich die junge Deutsche nun zu Recht. Denn das Urteil der Straßburger Richter ist nicht nur übertrieben, sondern fast schon radikalsäkular. Es ist eine Form staatlicher Gewalt, ein Stück Stoff zwanghaft aus der Gesellschaft zu verbannen. De facto darf der Staat nur in das Selbstbestimmungsrecht eines Individuums eingreifen, wenn dabei Rechte anderer verletzt werden. Man kann von einem Niqab halten, was man will, Rechte Dritter verletzt er sicherlich nicht.
Sowieso ist die Gruppe jener Frauen, die in Europa den Niqab tragen, verschwindend klein. Dennoch bestimmt die Debatte immer wieder die Schlagzeilen. Von Titelblättern prangen Bilder verschleierter Frauen, die trist in die Kamera blicken. Dabei stets untrennbar verbunden: Vollverschleierung und islamischer Glaube.
Wie viel Unwissenheit diese Debatte prägt, zeigt schon der Ausdruck »Burka-Verbot«. Eine Burka ist nämlich nicht das Gleiche wie ein Niqab. Während Ersteres vor allem Gesichter afganischer Frauen verdeckt und Europa fast gar nicht vorkommt, ist Letzterer auf der Arabischen Halbinsel, vor allem in den Golfstaaten, verbreitet. Nicht wenige Niqab-Trägerinnen, die man auf den Einkaufsmeilen deutscher Großstädte begegnet, sind Touristinnen aus Saudi-Arabien, Katar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Ursprünglich haben beide Kleidungsstücke nichts mit dem Islam zu tun, sondern stammen unter anderem aus vorislamischer Zeit. Warum in Gegenden, in denen Sandstürme zum Alltag gehören, eine Vollverschleierung praktisch sein kann, erklärt sich von selbst. Später zogen es vor allem reiche, wohlhabende Frauen in der islamischen Welt vor, sich komplett zu verhüllen, um sich vor den Blicken des »einfachen Volkes« zu schützen. Die Verschleierung wurde zum Statussymbol. Heute ist teils das genaue Gegenteil der Fall: So sind in Afghanistan viele Burka-Trägerinnen Bettlerinnen oder Prostituierte. Während für solche Frauen die Burka der Anonymität dient, schützt sie andere weiterhin vor fremden Blicken und unnötigen Konfrontationen.
Für das islamische Verhüllungsgebot (Hidschab) gibt es eine Vielzahl an Interpretationen. Viele gläubige Muslimminen verzichten komplett auf ein Kopftuch. Andere verschleiern sich komplett. Vor allem saudische Gelehrte halten das Tragen des Niqab für die Pflicht jeder muslimischen Frau. Andere Würdenträger erklären das Gegenteil. Auch in anderen Religionen sind Formen der Verschleierung üblich. Viele orthodoxe jüdische Frauen sehen das Tragen des Kopftuchs ebenso als ihre Pflicht. Eine öffentliche Debatte gibt es dazu nicht.
In Europa bedient das Urteil des Europäischen Gerichtshofes nun hingegen die Vorurteile all jener, die Vollverschleierung mit Islam und Unterdrückung in Verbindung bringen. Einmal mehr schaut schaut ganz Europa auf den Kleidungsstil der Muslimin, während Jüdin, Christin oder Buddhistin tragen darf, was sie will. »Ich fühle mich nicht vom Islam unterdrückt, sondern von der europäischen Gesetzgebung«, meint Sara, die bei Passkontrollen übrigens keine Probleme hat: »Ich zeige einfach kurz mein Gesicht und das war's.« Daran, dass das Urteil Frauen vom Tragen des Niqab abhalten wird, glaubt sie nicht. Im Gegenteil: Musliminnen würden sich nun verschleiern, um ihren Protest deutlich zu machen, ist Sara überzeugt. Für Musliminnen in Europa könnte damit gerade das vermeintliche Symbol ihrer Unterdrückung zum Symbol der Selbstbestimmung werden.
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