Mal wieder dumm gelaufen

Das jüngere Erinnern an den Ersten Weltkrieg und die ukrainische Krise

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Es war eine Art von Public Viewing, das sich ziemlich genau 50 Jahre vor dem deutschen Fußballsommer von 2014 auf dem Berlin-Dahlemer Universitätscampus zutrug. Das Auditorium, vor dem der Hamburger Historiker Fritz Fischer seine Thesen zum Ersten Weltkrieg vortrug, war derart aus den Nähten geplatzt, dass sein Vortrag per Fernbild nach draußen übertragen wurde - damals überaus unüblich, zumal in der Geschichtswissenschaft.

Tatsächlich war diese Veranstaltung Teil eines gedenkpolitischen Erdbebens: Aufgrund damals neuen, aus der UdSSR in die DDR gelangten Materials bewertete Fischer zunächst das konkrete Agieren der Reichsführung völlig anders als bis dahin in der BRD üblich: Nicht nur »hineingeschliddert«, wie es bis dato landläufig hieß, war man demnach in den Weltkrieg, die Deutschen hätten denselben letztlich planvoll herbeigeführt. Fischer lieferte nichts anderes als eine wissenschaftliche Begründung des Versailler »Kriegsschuldparagrafen« - man kann sich ausmalen, wie ungeheuerlich das damals für viele noch klang.

Nicht minder umwälzend war indes eine methodische Akzentverschiebung, die Fischer in seinem zweiten Buch über die Vorzeit des Ersten Weltkriegs vornahm. In seinem Gefolge rief eine neue Historikergeneration den »Primat der Innenpolitik« aus. Demzufolge galt es, außenpolitisches Verhalten anhand der inneren Verhältnisse zu erklären. In Auseinandersetzung mit marxistischen Imperialismustheorien wurden in der Folge Fischers Befunde über den Kriegsausbruch mit der »Sonderwegsthese« erklärt: Deutschland habe sich im späten 19. Jahrhundert letztlich deshalb in seine gefährliche außenpolitische Achsen- oder »Mittellage« manövriert, weil es sich auch innenpolitisch ›anormal‹ entwickelt habe - und etwa historisch überholte Schichten zu viel Einfluss beibehielten. Deutschland ließ sich auf diese Art auch soziogenetisch als noch imperialistischer beschreiben als das englische oder französische Kolonialregime.

Fischers Thesen haben das Geschichtsbild einer Generation von Westdeutschen geprägt. Ab etwa den 1980er Jahren lernte jeder Gymnasiast, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch mit einem deutschen »Griff nach der Weltmacht« zu tun gehabt habe - und der »Primat der Innenpolitik« hatte intellektuell kaum zu überschätzende Wirkungen, indem er nicht weniger als einen neuen Ansatz der Historik nach sich zog. Nun stellte man weniger auf die Akten und Briefe der Handelnden ab, sondern auf sozialökonomische Dynamiken. Sowohl die deutsche Geschichtswissenschaft als auch die »Aufarbeitung« des Nazireichs wurden durch diesen Perspektivwechsel nachhaltig vorangetrieben.

Politisch war diese im Kern sozialdemokratische Gedenktradition jedoch nie unproblematisch: Aus der Sonderwegsthese wurde fast durchweg eine unbedingte Westbindung gefolgert. All jenen, die weniger NATO wollten, mit Neutralitätsgedanken spielten oder auch nur »atomwaffenfreie« Zonen forderten, ließ sich auf ihrer Basis auswärtiger Hazard und zuweilen fast ein bräunlicher Schimmer unterjubeln - bis weit hinein in den linken Radikalismus, wo die »antideutsche« Debatte der 1990er mit einer Sonderwegsdiskussion begann. Rückblickend will es fast scheinen, als seien mit diesem Kampfbegriff mehr Linke desavouiert worden als Reaktionäre überführt.

In ihrem schlechtesten Sinn, nämlich als außenpolitisches Dogma, ist die Sonderwegsthese auch nach wie vor in Kraft. Ansonsten aber ist vom Fritz-Fischer-Paradigma nicht viel geblieben - und zum 100. Jubiläum machen sich nun zwei voluminöse Bücher abermals an eine Revision: Herfried Münklers »Großer Krieg« und vor allem Christopher Clarks Beststeller »Die Schlafwandler«, den schon der Klappentext damit bewirbt, er wende sich gegen den »Konsens« einer deutschen »Hauptschuld«.

Beiden geht es in unterschiedlicher Reichweite um eine Re-Revision des unmittelbaren Kriegsausbruchs - was durchaus legitim ist, denn wie alle Historiker hatte auch Fischer seine Thesen natürlich zugespitzt. Dennoch ist auch die neue Darstellung nicht gegen Kritik gefeit. Münkler etwa bringt jüngst vor, gerade Deutschland habe im Juli 1914 keine konkreten Kriegsziele gehabt und deutet dies als Anzeichen für eine deutsche Überraschung vom Krieg. Dabei ließe sich die Tatsache, dass die Führung erst nach Kriegsausbruch bei den diversen Machtzentren Kriegszielszenarien einholte, auch ganz anders deuten: Im Wilhelminismus bestand eine Art kaisertreue »Zivilgesellschaft«, deren im Gegenteil schon lange bestehenden, weit reichenden Annexions- und Dominanzszenarien schwer zu koordinieren waren. Bei Clark kommt nach Fachhistorikermeinungen ausgerechnet Wien mit seiner aggressiven Haltung auf dem Balkan kaum nachvollziehbar günstig weg.

Bedenklich ist an dieser jüngsten Revision aber weniger die abermalige Umdeutung des Inhalts der Diplomatenakten und Politikernachlässe, auch wenn eine Umbewertung der historischen natürlich bei der Übernahme aktueller politischer »Verantwortung« helfen soll. Zu denken gibt vielmehr, wie umstandslos sie an dem zweiten, dem methodischen Teil der Fischer-Wende vorbeigeht. Nicht beim Politologen Münkler und schon gar nicht beim Polit-Historiker Clark spielt das Innere der beteiligten Länder konzeptuell eine Rolle - und damit auch nicht der Charakter der damaligen Staatenwelt.

So bleibt unterm Strich ein nonchalantes »Dumm Gelaufen«, das dem traditionellen »Hineingeschliddert« an Naivität nicht nachsteht. Und im Umkehrschluss erscheint die Welt der großen Mächte, die einander um 1914 hochgerüstet und aggressiv belauerten, als ganz normal und fast idyllisch. Dabei hatte etwa Friedrich Engels bereits 1887 vor dem großen Krieg der Imperien gewarnt. Dieser werde, raunte er im Stil des Nostradamus, Europa »so kahl fressen wie noch nie ein Heuschreckenschwarm«.

Die Methode dieses neuen »Dumm Gelaufen« ist dabei ganz die alte: Man geht so nahe heran, bis nichts mehr zu erkennen ist. Doch während man hinsichtlich der neuen Zensuren für die Akteure des Sommers 1914 sagen kann, dass eine Neuverteilung der »Schuld« auf die Kabinette und Generalitäten heute niemand mehr wehtut, macht diese systematische Verwischung der Konturen tatsächlich Angst. Denn auch die Auslösung der ukrainischen Krise, die pünktlich zum Kriegsjubiläum die Erinnerung an deren Schrecken so unangenehm nahe brachte und auf die Clarks Schlafwandler-Bild weit besser zu passen scheint als auf den Juli 1914, hatte mit solchen Wahrnehmungsproblemen zu tun. Nur dass »der Westen«, dessen Spitzenpolitiker sich im vergangenen Winter so selbstverständlich nach Kiew aufmachten, um den gewaltsamen Sturz einer immerhin gewählten europäischen Regierung zu fördern, in diesem Fall zum konkreten Geschehen zu viel Distanz aufbaut. So viel nämlich, dass der konkrete Konflikt hinter einem abstrakten Kampf der »Werte« verschwindet.

Wieder wird so ein Ist-Zustand der Staatenwelt stillschweigend akzeptiert, der zum Ursachengeflecht der Krise gehörte: Dass es sich nämlich die westlichen Dominanzmächte inzwischen herausnehmen, selektiv und nach kurzfristigem Interesse jedwede Regierung freihändig abzusetzen. Dabei ist die Bilanz dieses vermeintlichen Demokratieexports eine Katastrophe: In nicht einmal zwei Jahrzehnten haben maßgeblich westliche Interventionen eine apokalyptische Bürgerkriegszone erschaffen, die fast vom Mittelmeer bis an den Indus reicht. Diese Routine des Regierungskegelns geht aus Sicht der Dominanzmächte so lange gut, wie sich kein ebenbürtiger Gegenspieler zeigt. Ändert sich dies allerdings, müssen die westlichen Einmischungspolitiker im Handumdrehen wieder auf ganz anderen Klaviaturen zu spielen lernen

Und weder die allgemeine Erfahrung noch die in der Ukraine konkretisierte Erfahrung legen diesbezüglich großen Optimismus nahe - auch wenn es dort, anders als vor 100 Jahren auf dem Balkan vorerst gelungen scheint, den Krieg lokal zu halten. Denn die Geschichte lehrt ja vor allem eins: dass aus ihr fast nie gelernt wird.

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