Der Krieg gegen Gaza lässt Ramallah nicht kalt
Die Protestaktionen im Westjordanland nehmen zu – die Opfer des israelischen Militärs auch
Ramallah. Die Infrastruktur der Besatzung sieht ziemlich lädiert aus, hier am Qalandiya-Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah im Westjordanland. Ein klobiger Wachturm ist bis auf halbe Höhe tiefschwarz angekokelt. Die staubige Spur, auf der normalerweise die von Ramallah kommenden Autos sich dem Checkpoint nähern, um dann hier im Stau zu stehen, ist mit mannshohen Betonblöcken versperrt, und bedeckt mit schwarzer Asche, Überresten von verbrannten Autoreifen, Steinen, verkohltem Müll.
Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Spuren der nächtlichen Demonstrationen und Zusammenstöße zwischen jungen PalästinenserInnen und der israelischen Armee wegzuräumen. Noch dazu ist der Qalandiya-Checkpoint – die wichtigste Verbindung zwischen Jerusalem und Ramallah – für Autos gesperrt, seitdem ein Protestmarsch von Zehntausenden am Freitag erklärte, ihn durchbrechen zu wollen.
Nachts gibt es Proteste in Ost-Jerusalem und im Westjordanland, wann immer das israelische Militär Verhaftungen im besetzten Gebiet durchführt; und immer an den selben Reibungspunkten: den Checkpoints, an den Militärstützpunkten, an den israelischen Siedlungen, die direkt neben palästinensischen Dörfern liegen. Es sind meist Kundgebungen, die friedlich beginnen, sich aber blitzschnell hochschaukeln, sobald die Teilnehmer auf die israelische Armee oder die palästinensische Polizei treffen, die sie mit Tränengas beschießen. Werden Steine geworfen, deklariert die israelische Armee den Protest zum »riot« und geht gegen ihn mit Gummigeschossen und scharfer Munition vor. Verletzte gibt es so fast immer, Tote oft.
Zu Wochenbeginn wurden derartige Zusammenstöße zwischen Besatzern und Besetzten aus den Ost-Jerusalemer Vierteln Jabal al-Mukabber und Al-Issawiya berichtet, genau wie aus den Dörfern Beit Rima, Al-Janiyeh, Safa, und Ras Karkar in der Umgebung Ramallahs.
Kifah (Namen geändert) hat noch einmal Glück gehabt. Zwei Schüsse in den Bauch hat er abgekriegt, auch danach hätten die Soldaten noch auf ihn eingeprügelt und dem Rettungswagen den Weg versperrt. Kifah studiert, er macht einen Bachelor in Business Management, trägt eine Zahnspange, und hat Steine auf Soldaten außerhalb der Siedlung Bet El nahe Ramallah im Westjordanland geworfen. Er ist der Ansicht, dass man »etwas tun« müsse, nicht immer nur reden. Jetzt liegt er im Krankenhaus, er muss noch einmal operiert werden. Er hat nicht viel Kraft, aber er nimmt sie sich, um seine Geschichte zu erzählen, stolz und froh zugleich.
Schüsse auf Steinewerfer, das ist die Normalität hier. Das ist Alltag seit vielen Jahren. Was neu ist, sind die Massenproteste, mehr als zehntausend Menschen auf der Straße, das gab es seit langem, vielleicht sogar Jahrzehnten nicht mehr. Was in Gaza passiert, war hierzu Anlass, doch sogleich gesellten sich andere Gründe dazu, wovon deren wichtigster und unmittelbarster nach wie vor bleibt: die Forderung nach dem Ende der israelischen Besatzung.
Wenn dies der Beginn der dritten Intifada ist, dann ist es - bis jetzt - eine Protestbewegung, die größtenteils ohne Waffen auskommt. Das ist nicht wenig, angesichts der militärischen Antwort, auf die die Proteste stoßen, auch wenn dies in israelischen, und oft auch in deutschen, Medien anders wahrgenommen und dargestellt wird. Hier folgt man fast immer der Diktion der Armee, die sich mit »riots« konfrontiert sieht, und dementsprechend hart reagiert.
Samar jedoch ist nicht überzeugt, dass die Kundgebungen etwas bringen werden. Samar betreibt eine Galerie in Ramallah. Sie glaubt, dass es hier Kunst gibt, die auch international bestehen kann, und dass Kunstwerke aus Berlin, London, Paris, hier Käufer finden werden. Sie raucht schnell und lacht heiser. Sie bemängelt, dass die Proteste kein politisches Programm haben, keine artikulierte Strategie, wie denn ein Ende der Besatzung erreicht werden und was dann folgen soll. Es ist das alte Lied der fehlenden politischen Perspektive. Doch was ist Samars Schlussfolgerung? Dass die Passivität, die Resignation vieler hier doch richtig war?
Rami ist entrüstet. Er unterrichtet an der Universität Bir Zeit unweit von Ramallah, und konstatiert seit langem, dass die meisten Palästinenser alles Vertrauen in irgendeinen politischen Prozess verloren haben. Niemand kann sich noch vorstellen, wie dadurch die Lage auch nur ein wenig verbessert werden könnte. Da sind die jetzigen Massenproteste wie ein frischer Wind. »Ein Anfang«, sagt Rami, und lacht sarkastisch; vielleicht auch, damit nicht gleich zu viel Hoffnung aufkommt.
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