Libyen driftet in offenen Bürgerkrieg
Bewaffnete Milizen lassen sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen / Ägypten überlegt Intervention
Muammar al-Gaddafis Prophezeiung scheint wahr zu werden: Er werde Tripolis in Schutt und Asche legen, hatte der damalige Staatschef kurz vor der Erstürmung von Tripolis im August vor drei Jahren gewarnt. Nach nur drei Tagen Kampf gegen die Rebellen aus Misrata und Zintan floh er jedoch mit seinen Anhängern aus der libyschen Hauptstadt, ohne seine Drohung wahr machen zu können.
Was Gaddafi nicht geschafft hat, könnte den ehemaligen »Revolutionären«, die ihn gestürzt haben, nun gelingen. Die schwarzen Rauchwolken am Himmel künden von acht ausgebrannten Benzindepots und schweren Kämpfen zwischen den beiden Stadtmilizen, die einst zusammen Gaddafi vertrieben hatten. Ganztägige Strom- und Internetausfälle, Brot- und Benzinmangel halten die Zivilbevölkerung seit Wochen in Atem. Im Vorort Jansour zählten Anwohner alleine am Dienstag den Einschlag von 100 Kurzstrecken.
Während der von Rebellen aus Zintan kontrollierte internationale Flughafen seit dem 15. Juli von Panzern aus Misrata-Einheiten mittlerweile in Trümmer gelegt wurde, versuchen die mit ihnen verbündeten Islamisten den Militärflughafen Maitiga zum neuen Luftkreuz zu machen. »Damit hätten die mit Dschihadisten in Syrien verbündeten libyschen Radikalen mit Maitiga eine sprudelnde Einnahmequelle«, klagt der Abgeordnete Ali Takbali. Der Amateurpolitiker ist Mitglied des neuen Übergangsparlamentes, das am Montag erstmals in Tobruk zusammentraf. 160 von 182 gewählten Abgeordneten schlugen sich auf teils abenteuerlichen Routen in die in Ostlibyen gelegene Hafenstadt durch.
Mit der Verlegung der Gründungszeremonie in das sichere Tobruk haben sich die Parlamentarier dem Zugriff der islamistischen Milizen entzogen. Der vor zwei Jahren gewählte Nationalkongress war immer wieder von Bewaffneten gestürmt worden, um Abstimmungsergebnisse zu erpressen. So kam auch das »Isolationsgesetz« Mitte 2013 zustande. Es verbannt sämtliche seit 1969 tätigen Funktionäre aus ihren Ämtern und wird von vielen Beobachtern als Zündfunke des nun immer weiter eskalierenden Konfliktes gesehen.
»Das Repräsentantenhaus ist die letzte Chance, Libyen vor einem Bürgerkrieg zu bewahren«, so der Islamisten-Kritiker Takbali, der den Bezirk Tripolis Mitte vertritt. Doch schon in der ersten Sitzung drohte die Spaltung. 20 Abgeordnete aus dem islamistischen Spektrum und Misrata blieben fern, der Präsident des scheidenden Nationalkongresses Nouri Abousahmain erkennt wie der oberste Geistliche Libyen, Sadiq Ghariani, das neue Parlament nicht an. Als Grund nennt Abousahmain die von ihm organisierte und gescheiterte Übergabezeremonie im umkämpften Tripolis. Nur wenige Abgeordnete erschienen und schließlich blieb er selbst auch fern.
Mit jedem Konflikttag wächst der Druck auf weitere Städte, sich auf die Seite von Misrata oder Zintan zu schlagen. Die vor drei Jahren auf der Seite Muammar al-Gaddafis kämpfenden Warschefana-Milizionäre griffen am Montag das sogenannte Camp 27 westlich von Tripolis an.
Während die Europäische Union mit einer verwässerten Erklärung ihre Besorgnis über den Gewaltausbruch zum Ausdruck brachte, forderte Amnesty International, die Milizenkommandeure wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzuklagen.
Der in Bengasi gegen Ansar Scharia und andere Islamisten kämpfende Ex-General Hafter konnte offenbar mit den Luftangriffen der vergangenen Monate nur wenig gegen die gut bewaffneten Milizen ausrichten. Letzte Woche musste die Spezialeinheit der Armee ihr Hauptquartier im Zentrum fluchtartig verlassen, nun jagten Dschihadisten auch noch das Polizeihauptquartier in die Luft.
In Ägypten wird daher immer lauter über eine militärische Intervention nachgedacht. Für den Angriff auf einen Polizeiposten mit mehreren Toten und Verletzten unweit der libyschen Grenze machte die Regierung in Kairo umgehend libysche ISIS Kämpfer verantwortlich. Viele Libyer kehren zurzeit aus Irak und Syrien zurück, um Hafter zu bekämpfen.
Fast 50 000 ägyptische Gastarbeiter überquerten in den letzten zwei Wochen die Grenze bei Sallum. Nach Indien, China und Pakistan forderten auch die Philippinen ihre Landsleute auf, Libyen zu verlassen. Den staatlichen Krankenhäusern droht nach der Evakuierung tausender asiatischer Krankenschwestern nun der Kollaps.
Nachdem eine Rakete am Mittwoch 18 Sudanesen im Tripolitaner Vorort Jansour tötete, entschloss sich mit der Türkei nun auch die letzte ausländische Botschaft, Tripolis den Rücken zu kehren. In der Muslimbrüderhochburg Misrata wird Ankara jedoch weiterhin präsent bleiben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.