Egon Bahr: «Faden nach Moskau darf nicht abreißen»

Gespräch über die schwere Krise in der Ukraine und das Verhältnis zu Russland / Vordenker der Ost-Politik erinnert an unbeantwortete Angebote Putins

  • Interview Georg Ismar
  • Lesedauer: 4 Min.

Von Zigarettenqualm vernebelt sitzt Egon Bahr hinter seinem Schreibtisch, das jüngste Zeitungsinterview von Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf dem Tisch. Es ist versehen mit akkuraten Anstreichungen. Fast täglich fährt der Vordenker der SPD-Ostpolitik noch ins Willy-Brandt-Haus. Im Vergleich zum Ost-West-Konflikt der 1970er Jahre ist die Weltlage gerade ziemlich unübersichtlich. Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur sagt Bahr, warum er trotz der Eskalation in der Ukraine nicht mit Krieg rechnet - und wie die Gaslieferungen aus Russland auch im Winter gesichert werden könnten.

Herr Bahr, Sanktionen, Gegensanktionen, Truppenaufmarsch - haben Sie Angst vor einer Eskalation der Krise mit Russland?

Die Lage ist so unübersichtlich und ändert sich von Tag zu Tag, so dass niemand ausschließen kann, dass daraus eine schwer beherrschbare Krise wird. Trotzdem bleibe ich bei meiner Grundauffassung, dass es keinen Krieg geben wird.

Warum nicht?

Deshalb nicht, weil die beiden Hauptkontrahenten, also Amerika und Russland, genau wissen, wie nötig ihre Zusammenarbeit in einer ganzen Reihe von Weltproblemen ist: Syrien, Naher Osten, Israel, Palästina, Abzug aus Afghanistan, der Weltraum.

Fachleute fürchten angesichts von Ereignissen wie dem Abschuss von Flug MH17 über der Ostukraine einen Krieg aus Versehen...

Gewisse Analogien zu dem berühmten Buch von Christopher Clark «Die Schlafwandler» über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind nicht zu übersehen. Dieser Flugzeugabschuss ist ein Element der Unberechenbarkeit gewesen. Man kann die diplomatischen Bemühungen der Bundeskanzlerin und des Außenministers so werten, dass die Unberechenbarkeiten von nun an ausgeschlossen werden sollen. Aber ohne einen Waffenstillstand in der Ostukraine sind auch Verhandlungen für eine friedliche Lösung in der Ukraine nicht möglich.«

Ist die deutsche Außenpolitik nicht zu zahm im Umgang mit Russland?

Sie ist davon bestimmt, den Faden zu Moskau nicht abreißen zu lassen. Das halte ich für richtig. Denn Deutschland hat es mit zwei nicht veränderbaren Grundfaktoren zu tun: Das unentbehrliche Amerika und das unverrückbare Russland. Sie lassen sich nicht ändern. Es gilt der Grundsatz von Willy Brandt: Kleine Schritte sind besser als große Worte. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Deutschland führen soll, aber nicht so, dass das kenntlich wird. Ich erinnere mich, wie schon Brandt gesagt hat, die Bundeswehr soll so stark sein, dass die Sowjetunion Respekt vor uns hat, aber nicht so stark, dass Luxemburg Sorge haben muss. Das ist auch übertragbar auf die wirtschaftliche Stärke, die Deutschland heute gewonnen hat.

Sind die EU-Sanktionen nicht höchst fragwürdig, wenn zum Beispiel Frankreich noch bereits bestellte Kriegsschiffe ausliefern darf?

Ich kann den gegenwärtigen Zustand Europas nicht ändern. Ich erinnere an das Jahr 1970, an meine Verhandlungen mit Außenminister Andrej Gromyko, der fragte, wann damit zu rechnen sei, dass Europa mit einer Stimme spricht. Darauf habe ich ihm gesagt, »Wiedervorlage in 20 Jahren«. Jetzt stelle ich fest, dass 45 Jahre vergangen sind.

Kann man dem russischen Präsidenten Putin noch trauen?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Aber man darf nicht vergessen, dass er vor einigen Jahren vor dem Bundestag gesprochen hat und interessante Angebote der Kooperation gemacht hat. Das ist ohne Antwort geblieben. Putin hat frühzeitig betont, wenn das mit der Ausweitung der Nato so weitergeht, ist das ein unwiederbringlicher Vertrauensverlust. Das heißt: Ich bin der Auffassung, dass Putin ein kalkulierender Staatschef ist, der sich überlegt, ob er eigentlich Partner für verlässliche Abreden der Zusammenarbeit hat. Im Grunde geht es für den Westen jetzt um die Frage, ob er Sicherheit mit Russland oder Sicherheit vor Russland anstreben will.

Es wird ein Gas-Lieferstopp im Winter befürchtet. Sigmar Gabriel hat die Gründung einer Energie-KSZE gefordert, eine Übereinkunft nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in den 70er Jahren, um die Energie aus dem Konflikt auszuklammern.

Ich halte das für einen interessanten Vorschlag. Ich habe auch keinerlei Drohungen aus Moskau gehört, der die Zuverlässigkeit der Energielieferungen in Frage stellt. Die Idee von Gabriel entspricht einem sinnvollen und dauerhaften Strukturvorschlag zur Verhinderung einer Ausweitung der Krise auf den wichtigen Energiesektor. dpa/nd

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