Vom Flugsaurier zur Concorde

Wissenschaftler finden erstaunliche Parallelen zwischen natürlicher und technologischer Evolution

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Eines ist selbst für den flüchtigen Betrachter unübersehbar: Im Verlauf der Erdgeschichte hat sich die Komplexität des Lebens in vielen Abstammungslinien deutlich erhöht. Gleichwohl besteht darin nicht der Zweck der biologischen Evolution. Das, was manche Fortschritt nennen, ist in Wirklichkeit das Ergebnis eines zufälligen und ungerichteten Prozesses, der stets von Vorhandenem ausgeht und nicht auf ein Ziel hin erfolgt.

So waren, um dafür ein Beispiel zu geben, die ersten Amphibien, die sich aus Knochenfischen entwickelten, selbst noch sehr fischähnlich. Als Bindeglied bzw. Brückentier zwischen Fischen und Amphibien gilt heute der knapp einen Meter große Ichthyostega, der vor rund 400 Millionen Jahren sowohl im Wasser als auch zeitweilig an Land lebte. Neben Fischmerkmalen (Schuppen, Flossensaum etc.) besaß er - ähnlich wie die Amphibien - Extremitäten zum Laufen sowie eine Lunge zum Atmen.

Auch die Übergänge zwischen anderen Klassen von Wirbeltieren sind fossil dokumentiert. Im heutigen Südafrika lebte vor rund 240 Millionen Jahren der sogenannte Cynognathus, der sowohl Reptilien- als auch Säugetiermerkmale in sich vereinte. Das berühmteste Brückentier ist jedoch zweifellos der Archaeopteryx, der vor rund 150 Millionen Jahren seine ersten Flugversuche machte. Er wird stammesgeschichtlich zwischen Reptilien und Vögeln eingeordnet.

Schon Charles Darwin hatte bemerkt, dass sich Organe und Körperteile, die jeweils eine Klasse von Lebewesen kennzeichnen, in der Evolution oft unabhängig voneinander und unterschiedlich schnell entwickeln. Dadurch entstehen Organismen, die gleichsam ein Mosaik aus älteren und jüngeren Merkmalen bilden. Eine solche Mosaikevolution findet aber nicht nur in der Natur statt, sondern auch im Bereich der Technik. Einer der Ersten, der darauf hinwies, war der polnische Philosoph und Science-Fiction-Autor Stanisław Lem. In seinem 1964 erschienenen Buch »Summa technologiae« führt er als Beispiele dafür das Auto, das Flugzeug und das Radio an. All jene technischen Erfindungen, heißt es dort, »verdankten ihr Äußeres dem Kopieren von Formen, die schon vor ihnen da waren«.

Das gilt in besonderer Weise für das erste vierrädrige Automobil mit eingebautem Verbrennungsmotor, das Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach 1886 konstruierten. »Es erinnert lebhaft an eine offene Kutsche mit abgehackter Deichsel«, meint Lem. Auch die motorlosen Flugapparate bzw. Hängegleiter, die Otto Lilienthal 1891 erstmals erfolgreich erprobte, waren den schon im alten China erfundenen Drachen nachempfunden und beruhten überdies auf dem detaillierten Studium des Vogelflugs. Als drahtgebundenes Vorbild des Radios gilt heute das sogenannte Theatrophon, ein weiterentwickeltes Telefon, das der französische Ingenieur Clément Ader 1881 in Paris vorstellte. Es diente der Übertragung von Opern- und Theateraufführungen, die über die Leitungen des Fernsprechnetzes sowie einen Telefonhörer erfolgte.

Ähnlich wie in der Natur treten auch in der Technik die Vorteile einer neuen Erfindung nicht immer sofort zutage. »Die Urformen mechanischer Fahrzeuge bewegten sich langsamer als Pferdefuhrwerke« schreibt Lem. »Das Flugzeug kam kaum von der Erde los, und selbst verglichen mit der blechernen Stimme des Grammophons war das Abhören von Rundfunksendungen kein Vergnügen.«

Erst wenn sich eine evolutionäre Neuerung etabliert hat, setzt das ein, was Biologen »adaptive Radiation« nennen: die Auffächerung einer wenig spezialisierten Art in viel stärker spezialisierte Arten durch Anpassung an spezielle Umweltbedingungen. Man denke nur an die 13 Darwinfinkenarten auf den Galápagos-Inseln, die alle auf eine südamerikanische Stammform zurückgehen und dank unterschiedlicher Schnabelformen verschiedene ökologische Nischen besetzen. Auch beim Automobil vollzogen sich analoge »Artbildungsprozesse«: Aus Daimlers Motorkutsche gingen im Laufe der Zeit der Lastwagen, der Autobus, der Bulldozer, das Geländefahrzeug und andere Gefährte hervor, mit deren Hilfe es den Menschen gelang, nahezu das gesamte Festland zu »erobern«.

Das Flugzeug, das den Luftraum als ökologische Nische besetzte, wechselte zu diesem Zweck gleich mehrfach seine Formen und Antriebssysteme. Ein Forscherteam um Adrian Bejan von der Duke University in Durham (USA) hat jetzt die Evolution der Passagierflugzeuge näher untersucht. Und zwar ausgehend von der propellergetriebenen DC-3, dem berühmten Rosinenbomber, bis hin zur Boeing 787 und dem Airbus A380. Um mehr Menschen und Waren transportieren zu können, wurden die Flugzeuge bekanntlich immer größer. Dennoch blieb ihr Design einem Gesetz unterworfen, das Bejan »Constructal Law« nennt. Danach müssen Masse wie Leistung des Antriebs und die Flugzeuggröße in einem passenden Verhältnis zueinander stehen. Gleiches gilt für die Flügelfläche und die Rumpflänge sowie die Menge des Treibstoffs und das Gesamtgewicht.

Das ist bei großen Landtieren ähnlich. »Hier sind Muskelmasse, Herzmasse und Lungenvolumen in etwa proportional zur Körpermasse des Tieres«, schreiben die Forscher im »Journal of Applied Physics« (Bd. 116, 044901). Mitunter wird dieses Grundprinzip in der Evolution bis an seine Grenzen ausgereizt. Bejan führt als Beispiel den Dodo an, einen etwa 20 Kilogramm schweren und flugunfähigen Vogel, der lange Zeit unbehelligt auf Mauritius herumlief. Erst als im 17. Jahrhundert die Niederländer die Insel besiedelten und Ratten und Schweine einschleppten, wurde der massige und relativ unbewegliche Vogel für seine Feinde zur leichten Beute. Seit dem Jahr 1690 gilt der Dodo als praktisch ausgestorben.

»Wie die Evolution der Vögel endete auch die Evolution der Verkehrsflugzeuge in einer Sackgasse«, meint Bejan. Er vergleicht den Dodo mit der überschallschnellen Concorde, deren Betrieb 2003 eingestellt wurde: »Die Maße der Concorde waren zu weit vom optimalen Design entfernt.« Sie hatte einen zu langen Rumpf und kurze Flügel, bot relativ wenigen Passagieren Platz und verbrauchte dafür viel Treibstoff.

Ist die Concorde deshalb tatsächlich als ein Irrweg der technologischen Evolution anzusehen? Diese Frage lässt sich so leicht nicht beantworten. Ohne den Absturz des Überschallflugzeuges am 25. Juli 2001 bei Paris, der zu einem Einbruch bei den Passagierzahlen führte, würde die Concorde vielleicht heute noch fliegen. Vergleichbares gilt für den Zeppelin LZ 129 »Hindenburg«, der 1935 bei der Landung in Lakehurst (USA) in Flammen aufging. Dieser Unfall bedeutete seinerzeit das Ende der Luftschiffe, die bis dato als viel versprechende transatlantische Verkehrsmittel gegolten hatten.

Dass Größe an sich kein Grund für ein evolutionäres Versagen ist, zeigt ein Blick auf die teilweise gigantischen Flugsaurier, die über 165 Millionen Jahre auf der Erde lebten. Und vielleicht hätten sie noch weitere Jahrmillionen existiert, wäre nicht ein Asteroid auf die Halbinsel Yucatán geprallt und hätte eine ökologische Katastrophe ausgelöst, an deren Folgen die keineswegs erschöpften Riesenflieger vor 65 Millionen Jahren zugrunde gingen.

In der Natur sind es ähnlich wie in der Technik oft unvorhersehbare Ereignisse bzw. Katastrophen, die dazu führen, dass neue Innovationen in den Vordergrund treten. Aber auch sonst ähnelt sich die evolutionäre Logik in beiden Bereichen auf verblüffende Weise. Es wäre daher sinnvoll, meint Bejan, bei neuen technologischen Entwicklungen vorab danach zu fragen, ob deren Grundlagen, etwa das Verhältnis von Größe und Leistung, nicht bereits in der Natur getestet wurden.

Nach dem Aussterben der Dinosaurier machten übrigens auch die Säugetiere einen gewaltigen Größensprung. Innerhalb kurzer Zeit wuchsen ihre durchschnittlichen Körpermaße auf allen Kontinenten nahezu um das Tausendfache, berichtet ein Forscherteam um die US-Biologin Jessica Theodor im Fachblatt »Science« (Bd. 330, S. 1216) So erreichte etwa das »Indricotherium transouralicum«, ein hornloser Verwandter der heutigen Nashörner, eine Schulterhöhe von fünf Metern sowie ein Gewicht von 17 Tonnen. Damit war das Ur-Nashorn das schwerste Landsäugetier, das jemals auf der Erde lebte.

Ausgelöst wurde die Zunahme der Körpermaße durch die frei werdenden Nischen im damaligen Ökosystem. »Die Dinosaurier verschwanden und plötzlich gab es niemanden mehr, der die Vegetation fraß«, sagt Theodor. »Damit war eine freie Nahrungsquelle entstanden und die Säugetiere begannen, sie zu nutzen.« Das kam vor allem den Pflanzenfressern zugute, deren maximales Körpergewicht das der größten Fleischfresser weit übertraf. Während nämlich die Pflanzenfresser nichts weiter taten, als tagein, tagaus zu grasen, mussten die Fleischfresser viel Energie darauf verwenden, ihre Beute zu erjagen.

Im Allgemeinen ist eine Größenzunahme für Tiere durchaus von Vorteil. Denn durch das kleine Oberfläche-Volumen-Verhältnis laufen in einem großen Körper die physiologischen Prozesse und die Wärmeregulation effizienter ab als in einem kleinen Körper. Folglich sollten eigentlich alle Stammeslinien der Evolution dazu tendieren, immer größere Formen hervorzubringen. Der US-Paläontologe Edward D. Cope sah darin 1889 sogar eine Gesetzmäßigkeit, die als solche jedoch nicht verifiziert werden konnte. Denn es gebe viele Tierformen, die im Verlauf der Evolution gleichgroß geblieben oder sogar geschrumpft seien, sagt David Jablonski von der Universität Chicago, der dies am Beispiel von 85 Muschelgattungen nachgewiesen hat.

Bei den Säugetieren endete die erwähnte Größenzunahme vor rund 37 Millionen Jahren. Warum dies geschah, können Jessica Theodor und ihre Kollegen nur vermuten. Neben dem relativ warmen Klima dürfte vor allem die Begrenztheit der Landflächen eine weitere Größenzunahme verhindert haben. Auch in der Technik steht und fällt das Wachstum mit den vorhandenen Ressourcen, die in der Regel wenig Raum für Gigantismus lassen. »Kleine« Lösungen sind da oftmals erfolgreicher. Das zeigt beispielhaft die durch Miniaturisierung möglich gewordene Entwicklung einer batteriebetriebenen, mobilen Elektronik, die, um an Lem zu anzuknüpfen, der sozio-technologischen Evolution einen ungeheuren Schub verliehen hat.

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