Fröhliche Rebellin

Besuch bei Astrid Lindgren: Der Näs-Hof ist Schauplatz vieler Geschichten

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 7 Min.

Eine Kindheit kann viel bedeuten. Im Falle der Schriftstellerin Astrid Lindgren birgt sie einen Erfahrungskosmos, dem sämtliche Figuren, all jene wundervollen Geschichten entsprangen, die Kinder auf der ganzen Welt bis heute verzücken. Die Bauerntochter vom Näs-Hof, die sich schwor, nachdem ein Schulaufsatz im Lokalblatt veröffentlicht und sie als »Vimmerbys Selma Lagerlöf« apostrophiert wurde, niemals Schriftstellerin zu werden, schrieb 40 Kinder- und Jugendbücher, 47 Bilderbücher, 17 Theaterstücke, 27 Drehbücher sowie zahlreiche Kinderlieder. Die Erklärung ihrer einzigartigen Schaffenskraft mutet uns heute, da Kinder sich oftmals bereits im zarten Alter einem scharfen Auslese- und Leistungsdruck ausgesetzt sehen, erstaunlich einfach an: »Und wir spielten und spielten und spielten, sodass es das reine Wunder ist, dass wir uns nicht totgespielt haben.« Eltern können eben viel bewirken.

Auf meinem Weg zu Astrid Lindgrens Geburtshaus, seit 2007 für die Öffentlichkeit zugänglich, zeigt sich Schweden von seiner lieblichsten Seite: Grüne Kiefernwälder mit Birkenstämmen durchsetzt, wilde Erdbeeren, Wiesenschaumkraut, Boote in blauen Fjorden, die von der Ostsee weit ins Land hineinfingern, zaubern ein spätsommerliches Idyll. Das ist Småland, der Preiselbeerdistrikt - Astrids geliebte Heimat, ihr unversiegbares Reservoir der Erinnerungen. Hier erahnen wir den Ursprung und die Intensität ihrer Naturliebe: »Von diesem Heckenrosenbusch auf der Ochsenweide lernte ich das erste Mal, was Schönheit ist.«

Am Ortseingangsschild von Vimmerby wirbt ein Hotel »Ronja« mit günstigen Angeboten für längeres Verweilen. Auf dem Marktplatz lockt eine begehbare Bronzeskulptur: Astrid an der Schreibmaschine, und wer Glück hat wie ich, trifft eine leibhaftige Pippi Langstrumpf, die ihr auf dem Tisch herumtanzt. Auf Näs, dem alten Pachthof am Ortsrand, kam die spätere Auorin am 14. November 1907 als Astrid Anna Emilia Ericsson und zweites von vier Kindern zur Welt. Ihre Eltern setzten 1920 neben das schlichte falunrote Gebäude ein weißes Holzhaus mit Veranda, die Villa Kunterbunt ihrer Fantasie. Im »Schuppen«, dem Vorbild für die Tischlerei in den »Michel«-Geschichten, der im schwedischen Original Emil heißt, betreiben heute Verwandte einen Laden.

Den Eltern Samuel August und Hannah hat Astrid mit dem Buch »Sammelaugust« (1952) und der Betrachtung »Das entschwundene Land« (1977) ein unvergängliches Andenken geschaffen. Beileibe keine heile Welt, denn Landwirtschaft bedeutete zu Beginn des vorigen Jahrhunderts harte Arbeit, die Kinder nicht aussparte: Nesseln rupfen, Rüben verziehen und Ernten einbringen. Aber vor allem gibt es Geborgenheit und freimütigen Umgang miteinander: Eine Mutter, die sich nicht beklagt, wenn die Kinder mit verdreckten Kleidern vom Spielen nach Hause kommen; einen liebevollen Vater, der mit Worten umzugehen weiß und die Ambitionen seiner Kinder großherzig ermutigt. Märchen und Geschichten gibt es bei Kristin in der Landarbeiterküche zu hören.

Hier um Näs ist der Schauplatz der Bullerbü-Geschichten, Astrids Geschwister und Spielgefährten sind in den Buchkindern verewigt worden, so der 1974 verstorbene einzige Bruder Gunnar, der erste »Sachensucher«, als Lasse. »Das Beste an den Bullerbü-Büchern ist, dass die Eltern da so lieb sind«, schrieb einmal ein Kind an Astrid Lindgren.

Heute präsentiert sich Näs als heitere Begegnungsstätte, geprägt von Leben und Werk der 2002 gestorbenen Autorin, die niemals jene höchste Auszeichnung erhielt, aber dies altersweise mit den Worten abtat: »Den Nobelpreis würde ich wahrscheinlich nicht überleben. Da ich jetzt schon von so vielen Journalisten verfolgt werde, stelle ich mir mit Entsetzen vor, wie es wäre, wenn die gesamte Weltpresse angestürzt käme.« Vor ihrem 90. Geburtstag 1997 fuhr sie mit Schwester Stina und Tochter Karin nach Huskvarna und feierte im Geheimen bei den Töchtern ihres Bruders Gunnar. In ihrem Geburtsort Vimmerby fand die offizielle Feier ohne ihr Beisein, aber mit dem damaligen Ministerpräsidenten Göran Persson als Festredner statt. Er überreichte dem Ort einen Scheck über 7,5 Millionen Kronen, exakt die Summe des Literaturnobelpreises. Das Geld war für den neuen Astrid-Lindgren-Hof bestimmt.

Neben den alten Gebäuden ist ein modernes Dokumentationszentrum errichtet worden, in dem die Ausstellung »Astrid Lindgren für die ganze Welt« die Universalität im Wirken dieser großen Frau zeigt und einen weiteren Schwerpunkt in der Würdigung ihrer Aktivitäten setzt. Zu ihrem Leben gehörte das politische und soziale Engagement: »Sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häufchen Dreck.« Bereits in »Kati in Amerika« (1952) verurteilte sie die Rassendiskriminierung. Als Hexe Pomperipossa verwahrte sie sich in einem Aufsehen erregenden Artikel gegen die exorbitante Besteuerung, gab sie - wie ihre Pippi die »Plusterputen« der feinen Gesellschaft - einen aufgeblasenen Finanzminister der Lächerlichkeit preis.

Als der erste Weltkrieg endlich zuende ging, endete auch ihre Kindheit. »Ich weiß noch, wie schrecklich es war, festzustellen, dass man nicht mehr spielen konnte.« Bald verschwand die traditionelle Landwirtschaft mit Pferd und Wagen. Mit Bestürzung verfolgte sie, wie sich das Leid der Tiere im industriellen Zeitalter vergrößerte. Gegen die Massentierhaltung in Ställen publizierte sie zusammen mit einer Tierärztin das Buch »Meine Kuh will auch Spaß haben« und setzte sich erfolgreich für ein Tierschutzgesetz ein, das ihr Ministerpräsident Carlsson zum 80. Geburtstag überreichte: die Lex Lindgren, ein Geschenk, das zu ihrer Enttäuschung später entscheidend abgeschwächt wurde.

Den Eingangsbereich auf Näs beherrscht eine prächtige Ulme, jener Limonadenbaum, in dem sich Pippi für Thomas und Annika versteckt: »Ich bin im Baum drin. Der ist hohl bis runter auf die Erde. Wenn ich durch einen kleinen Spalt schaue, kann ich die Kaffeekanne draußen auf dem Rasen sehen.« Pippi Langstrumpf, die fröhliche Rebellin gegen die Erwachsenenwelt, ist Lindgrens erfolgreichste Schöpfung, gefolgt von Michel aus dem nahe gelegenen Lönneberga und Pippis bürgerlichem Gegenstück Madita, hinter der sich ihre Jugendfreundin Anne-Marie verbirgt.

Astrid Lindgren hatte selbst zwei Kinder, die sie sehr liebte. Ihren Sohn Lars bekam sie, damals auch in Skandinavien ein veritabler Skandal, als 19-jährige ledige Mutter. Zu schreiben begann sie als 37-Jährige eher zufällig, als ihre Tochter Karin bereits einige Jahre alt war. Sie verstauchte sich im Wasapark in Stockholm den Knöchel, musste mehrere Tage das Bett hüten und sich schonen. Dies gab ihr Ruhe, die Erzählungen aufzuschreiben, die vorher als Gutenachtgeschichten für ihre Tochter gedient hatten. Karin war es auch, die der Heldin den Namen Pippi Langstrumpf aussuchte.

Astrids Popularität ist immens. Bis ans Lebensende hatte sie ein Abonnement auf den schönen Titel »Schwedin des Jahres«, jeweils dicht gefolgt von der Kronprinzessin Viktoria. Ihr verblüffender Erfolg aber galt weltweit, vor allem in Deutschland und der Sowjetunion, wo seltsamerweise nicht Pippi, sondern Karlsson vom Dach zum Publikumsliebling avancierte. Als der damalige Botschafter Pankin sie darauf ansprach, dass es in jeder sowjetischen Familie mindestens zwei Bücher gebe, nämlich die Bibel und ihren Karlsson, äußerte sie verschmitzt: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Bibel bei Ihnen so populär ist.«

Ihre ganze Sorge galt den Kindern. »Niemals Gewalt«, lautete 1978 der Titel der berühmt gewordenen Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, ein provozierendes Plädoyer für eine liebevolle Erziehung. »Wäre ich Gott«, schrieb sie, die im hohen Alter noch leidenschaftlich spielte und hohe Bäume erklomm, im gleichnamigen und leider bis heute aktuellen Gedicht, »… würde ich viel / über die Kinder weinen, / denn nie habe ich mir gedacht, / dass sie es so wie jetzt / haben sollten.«

Näs ist ein einladender Ort. Viele Kinder beleben ihn. Ihre strahlenden Gesichter spiegeln die Liebe, die sie selbst den Kindern dieser Welt schenkte. Entsprechend formulierte sie ihr poetologisches Credo: »Man muss das Kind in sich selber spüren, wenn man für Kinder schreibt.«

Ihre geliebte Ochsenweide ist heute bebaut, der Feldweg vor der Villa Kunterbunt zur asphaltierten Straße mutiert. Die vom Vater errichtete lange Stallung gegenüber ist einem Parkplatz gewichen, der für die wenigen Reisebusse etwas überdimensioniert wirkt. Aber die Linden duften noch an diesem schönen Spätsommertag auf Näs.

Informationen (auch in Deutsch) unter: www.astridlindgrensnas.se

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