Modis Schonfrist läuft ab
100 Tage nach Amtsantritt des indischen Premiers lässt der »Fortschritt für alle mit allen« auf sich warten
Millionen Inder hatten erwartet, in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit werde Narendra Modi von seinen im Wahlkampf gemachten vollmundigen Versprechungen wenigstens ein paar einlösen. »Fortschritt für alle mit allen«, so lautete der strapazierte Slogan. Modi wollte dem Preisanstieg den Garaus machen, die Wirtschaft ankurbeln.
Die Inflationsrate lag im Juni laut »Times of India« jedoch knapp unter acht Prozent, das Wirtschaftswachstum bei 3,4 Prozent. Die Preise für Tomaten, Kartoffeln und anderes Gemüse sowie für Obst erreichten im Juli sogar Rekordhöhen. Die Eisenbahntickets wurden um 14 Prozent teurer. Und nach der verkündeten Öffnung der Eisenbahn für das Auslandskapital - des immerhin größten staatlichen Unternehmens - ist eine weitere Preiserhöhung zu erwarten.
Modi wollte mit Reformen auch für besseres, effektiveres Regieren sorgen. Sie lassen auf sich warten. Er stellte neue Straßen, Fabriken, Stromleitungen, Hochgeschwindigkeitszüge und 100 neue moderne Städte in Aussicht. Zugegeben, das sind gigantische, nicht in 100 Tagen zu bewältigende Aufgaben. Sie erfordern außer gewaltigen technischen und finanziellen Aufwendungen eine Überarbeitung der Gesetze zum Landerwerb, zügige und dennoch gründliche Untersuchungen der Auswirkungen auf die Umwelt und einen Abbau der noch immer hohen verwaltungstechnischen Hürden. Für den kleinen Mann, den Aam Aadmi, hat sich in Bezug auf die allmächtige Bürokratie bislang nichts verändert.
Die Korruption, der der Regierungschef bei jeder öffentlichen Gelegenheit den Kampf ansagt, grassiert wie zuvor. Gerade deckten die elektronischen Medien ein unglaubliches Bestechungsnetzwerk zwischen Ärzten und der Pharmaindustrie auf.
Die Kluft zwischen Arm und Reich besteht weiter: auf der einen Seite 56 Dollarmilliardäre, auf der anderen mindestens 300 Millionen Arme. Die Hälfte aller fünfjährigen Kinder ist unterernährt, von 1000 Babys sterben 48 während oder gleich nach der Geburt. Nach wie vor sehen hoch verschuldete Bauern den Ausweg aus ihrer Misere massenhaft nur im Freitod.
Die rigide Einstellung der Männergesellschaft gegenüber dem weiblichen Geschlecht, Gewalt gegen Frauen sowie Vergewaltigungen Minderjähriger gehören ebenso zum Alltag wie Kinderarbeit und Kinderheirat.
Zu einem brisanten Thema sollte Modi jedoch kaum sprechen: der zunehmenden Hinduisierung der Gesellschaft. Während sich die von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) geführte Regierung mit den erwähnten Problemen konfrontiert sieht und nach Lösungen sucht, wittern die Fundamentalisten in ihren Reihen sowie in der Schwesterorganisation Bajrang Dal und dem Welthindurat VHP Morgenluft. Sie wollen den multireligiösen und multikulturellen Vielvölkerstaat »hinduisieren« oder »indisieren«.
Die Offensive ist unverkennbar. So betitelte der BJP-Chef des jüngsten indischen Bundesstaates Telangana das indische Tennisass Sania Mirza als »Schwiegertochter Pakistans«, weil sie mit einem Sportler des Nachbarlandes verheiratet ist. Ein lokaler BJP-Führer in Uttar Pradesh fantasiert sogar von einem »globalen Liebes-Dschihad, der unschuldige Hindu-Mädchen in eine Falle lockt und zur Konvertierung zum Islam zwingt«. Im Parlament warnte der BJP-Abgeordnete Yogi Adityanath vor einer »Verschwörung gegen den Hinduismus«.
Der ultranationale Hindu-Freiwilligenverband RSS gibt in der Debatte die ideologische Richtung vor. RSS-Chef Mohan Bhagwat behauptet etwa, alle indischen Bürger seien Hindus, und rüttelt damit an den säkularen, in der Verfassung verankerten Grundsätzen der Gesellschaft. Parteigänger der radikalen, oft militanten Partei Shiv Sena stoßen ins gleiche Horn und erwarten, dass Modi Indien zu einem »reinen Hindustaat« machen wird.
Es bleibt nicht bei Hetzreden. Vor allem Muslime und Inder aus dem Nordosten werden überfallen und getötet. Rahul Gandhi, Vizepräsident der oppositionellen Kongresspartei, beschuldigte deshalb die BJP und Shiv Sena, eine »Politik des Hasses zu praktizieren«. Seine Mutter Sonia Gandhi, Chefin der Kongresspartei, verwies darauf, dass es während der Amtszeit der BJP-Regierung landesweit bereits zu rund 600 Zusammenstößen zwischen religiösen Gruppen gekommen sei. Es handele sich dabei um »gezielte Versuche, die Gesellschaft zu spalten«, glaubt Sonia Gandhi. Die BJP entgegnete, das alles sei die politische Hinterlassenschaft der Kongresspartei.
Längst geht es aber um künftige Generationen. Der RSS schickt sich an, die »Bildung zu indisieren«. Dinanath Batra, dessen vor Hindunationalismus triefende Bücher gerade an 42 000 Grund- und Mittelschulen des Bundesstaates Gujarat als Pflichtliteratur eingeführt wurden, enthalten neben rassistischen und antimuslimischen Passagen sowie der Verherrlichung des Hindutums eine Landkarte des »ungeteilten Indien«. Darin zählen Afghanistan, Pakistan, Bangladesch, Nepal, Bhutan, Tibet, Myanmar und Sri Lanka zu Indien. Narendra Modi hat zu Batras Büchern ein lobendes Vorwort geschrieben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.