Chile wählt Pinochets Wahlsystem ab
Der Zwist innerhalb der Rechten macht den Weg für eine Drei-Fünftel-Mehrheit frei
Lange galt es als in Stein gemeißelt: das binominale Wahlsystem in Chile. Es stammt aus der Diktatur Pinochets und es bedurfte einer Drei-Fünftel-Mehrheit, um es aus den Angeln zu heben. Während ihrer ersten Amtszeit scheiterte Michele Bachelet (2006-2010) mit ihrem Versuch, ein Verhältniswahlrecht einzuführen. Nun hat die seit März 2014 wieder als Präsidentin amtierende ihr Wahlversprechen in die Tat umgesetzt: Nach einer langen Sitzung stimmte das Abgeordnetenhaus dieser Tage für die Abschaffung des alten Wahlgesetzes. 86 Abgeordnete votierten dafür und gaben dem Vorhaben die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit. Lediglich 28 stimmten dagegen.
Ein Anachronismus ist damit aus der Welt: In jedem der 60 Wahlkreise wurden bisher zwei Abgeordnete gewählt. Die Partei (oder das Parteienbündnis) mit den meisten Stimmen stellte einen Abgeordneten, die Partei mit den zweitmeisten Stimmen ebenfalls. Der Sitz ging jeweils an den Erstplatzierten der Liste. Alle weiteren Parteien erhielten keinen Sitz. Wollte ein Parteienbündnis in einem Wahlkreis beide Sitze erhalten, musste es doppelt so viele Stimmen haben wie die zweitstärkste Kraft. Als Konsequenz bestimmten zwei große Koalitionen aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozialisten auf der einen Seite sowie zwei rechte nationalistische und pinochettreue Parteien auf der anderen in den letzten Jahrzehnten die Wahlen. Zukünftig können nun auch unabhängige Kandidaten und Vertreter kleinerer Parteien den Sprung ins Parlament schaffen.
Pinochet führte dieses System in den letzten Monaten seiner Amtszeit ein, um die Chancen linker Parteien einzuschränken. Sein Kalkül sollte über 24 lange Jahre aufgehen. Zwar stellte das Mitte-Links-Bündnis »Concertación« bis auf die Ausnahme von Sebastián Piñera 2010 seit dem Ende der Diktatur den Präsidenten, im Kongress führte das binominale Wahlsystem aber immer zu einer Pattsituation. »Viele Jahre stellten Parteien, die an den Urnen weniger Stimmen bekamen, im Parlament die Hälfte der Delegierten und blockierten als Minderheit jede Änderung«, resümierte Parlamentspräsident Aldo Cornejo vor der Abstimmung.
Dank dieses Wahlsystems ist auch die Verfassung aus der Diktatur noch in Kraft, in der 1980 das neoliberale Modell der Privatwirtschaft festgeschrieben und die uneingeschränkte Rechtssicherheit für privates Kapital garantiert wurde. Und noch immer gilt das Bildungssystem der Diktatur, mit dem das einst weitgehend staatliche einer privatwirtschaftlichen Bildungsindustrie übereignet wurde und gegen das Lernende und Lehrende bereits seit Jahren massiv protestieren.
Das Patt setzte sich auch nach den letzten Kongresswahlen vom November 2013 fort. Zwar trat das Mitte-Links-Bündnis unter dem Namen »Neue Mehrheit« erstmals auch mit den Kommunisten an, doch die zeitgleich gewählte neue Präsidentin Michelle Bachelet verfügt nicht über die für große Reformen notwendigen Mehrheiten, mit deren Hilfe ihre versprochenen Reformprojekte die Zustimmung der beiden Kongresskammern bekämen. Im Gebälk der rechten »Allianz für Chile« knirschte es bereits während des Wahlkampfs. Das Bündnis aus der eher modernen rechten »Renovación Nacional« und den strammen Pinochetanhängern der »Unión Demócrata Independiente« hielt nur noch mäßig zusammen. Jetzt scherten die RN-Abgeordneten erstmals aus und sorgten für die nötige Stimmenmehrheit.
Künftig sollen dem Abgeordnetenhaus 155 Delegierte angehören, 35 mehr als bisher. Dagegen wird die Zahl der Wahlkreise auf 28 verringert, um die Chancen von dritt- und viertplatzierten Kandidaten auf den Einzug ins Parlament zu gewährleisten. Auch die Anzahl der Senatorenmandate wird erhöht, von 38 auf 50. Zudem wird eine Geschlechterquote eingeführt: Höchstens 60 Prozent der Kandidaten einer Liste dürfen dem gleichen Geschlecht angehören.
Mit der Änderung des Wahlgesetzes ist eines der wichtigsten Reformversprechen Bachelets umgesetzt worden. Die noch ausstehende Zustimmung des Senats gilt als sicher. An Bachelets zweite Amtszeit werden von der Bevölkerung große Erwartungen geknüpft. Die Sozialistin hatte im Wahlkampf grundlegende Reformen versprochen. So soll auch eine Verfassungs-, Steuer- und Bildungsreform auf den Weg gebracht werden.
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