Wo die Pfeffer-Statistik wächst
Die Polizei dokumentiert den Einsatz von Reizstoffen nicht korrekt, behaupten die Piraten
Es sind Bilder, die nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen für Empörung sorgten: Als eine mehrheitlich aus Schülern bestehende Solidaritätsdemo für die in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg lebende Flüchtlinge am 1. Juli ihren Abschlussort auf dem Spreewaldplatz erreicht, geht die Polizei mit Pfefferspray gegen die oft noch minderjährigen Teilnehmer vor. Auf einem im Internet veröffentlichten Video sind die unmittelbaren Folgen des Reizgases gut zu erkennen. Hektisch ergreifen viele Schüler die Flucht, laufen panisch auseinander, der Reizstoff entwickelt seine offenbar beabsichtige Wirkung: Gereizte Augen, Tränen, schwere Atmung, viele versuchen, mit Wasser aus ihren mitgebrachten Trinkflaschen das Pfefferspray aus den Augen zu spülen.
Da sich der Vorfall erst im Juli ereignete, ist er in der Bestandaufnahme der Innensenatsverwaltung zum Einsatz von Pfefferspray als Antwort auf eine Anfrage des innenpolitischen Sprechers der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus, Christopher Lauer, noch nicht enthalten. Doch auch Einsätze, wie dieser gegen die Schülerdemo sind es, weshalb die Piraten am grundsätzlichen Einsatz von Pfefferspray auf Versammlungen durch die Beamten zweifeln. »Die Polizei greift zu schnell zu Pfefferspray und setzt es unverhältnismäßig ein, um Gruppen von Versammlungsteilnehmern zu schikanieren und zu kontrollieren«, sagte Lauer »nd«.
Wie aus den Zahlen der Innensenatsverwaltung hervorgeht, kam es in den erst sechs Monaten dieses Jahres zu insgesamt 225 Vorgängen, bei »denen die Verwendung von Pfefferspray dokumentiert ist«. Am häufigsten sind dabei mit 78 Fällen Polizeieinsätze bei Straftaten, gefolgt von 40 Einsätzen im Zusammenhang mit Demonstrationen. Allein letztere Zahl erscheint den Piraten viel zu niedrig, da unter den Betrachtungszeitraum gleich mehrere polizeiliche Großeinsätze, darunter die Demonstrationen rund um den 1. Mai oder die Flüchtlingsproteste fallen. Die Zahl der Fälle könnte allerdings so gering erscheinen, da die Polizei offenbar nicht jeden individuellen Einsatz von Pfefferspray durch die Beamten erfasse, sondern bei Großeinsätzen offensichtlich alle Einzelaktionen zu einem einzigen Vorgang zusammenfasse, vermuten die Piraten. »Die Statistik zur Erfassung der Pfeffersprayeinsätze der Berliner Polizei ist nicht aussagekräftig«, kritisiert Lauer. Bei einigen erfassten Anlässen wirft die Statistik allerdings Fragen auf. So erfasse die Erhebung beispielsweise mit 17 Vorgängen gegen randalierende Personen oder in neun Fällen von häuslicher Gewalt den konkreten Einsatz von Pfefferspray relativ genau, während die Innensenatsverwaltung gleichzeitig 22 Anlässe ohne Angaben und weitere 26 zu sonstigen Fällen auflistet, womit immerhin ein Fünftel aller Reizmitteleinsätze unklar bleibt.
Im Senat scheinen derartige Unklarheiten allerdings niemanden zu stören. »Der Einsatz von Pfefferspray wird bisher als ausreichend dokumentiert angesehen«, heißt es in der Antwort auf Lauers Anfrage. Der Innenexperte fordert, der »Einsatz von Pfefferspray durch jeden einzelnen Polizisten« müsse in Zukunft dokumentiert werden, um tatsächliche Angaben über die Verwendungshäufigkeit zu erhalten.
Auf Demonstrationen habe der Reizstoff nichts zu suchen: »Die Piraten wollen den Einsatz von Pfefferspray bei Versammlungen und anderen Großlagen durch die Polizei verbieten«, sagt Lauer. Auch unter Wissenschaftlern sind die zum Einsatz kommenden Inhaltsstoffe nicht unumstritten. Das von der Berliner Polizei verwendete Pfefferspray enthält als wichtigsten Bestandteil Pelargonsäurevanillylamid (PEVA). Wie auch beim häufig verwendeten Oleoresin Capsicum (OC) kann PEVA insbesondere für Menschen mit Asthma gefährlich werden, da sich die Bronchien beim Einatmen zusammenziehen können, weshalb in letzter Konsequenz die Lunge verkrampfen kann, warnen Toxikologen. Im Gegensatz zu OC sind die Nebenwirkungen von PEVA bisher deutlich weniger erforscht.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) bezeichnet den Einsatz von Pfefferspray dagegen als richtig. Es habe sich im Einsatz bewährt und bringe im Vergleich zu anderen Mitteln und Methoden die geringeren Gefahren für alle Beteiligten mit sich.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!