Die neue »Speerspitze« der NATO
Gipfeltreffen der Allianz in Wales will einen »Aktionsplan« für Osteuropa beschließen
Barack Obama sparte am Mittwoch in Tallinn nicht mit großen Worten. Nie werde Estland allein stehen, unzerbrechlich, felsenfest und ewig werde der Beistand der Vereinigten Staaten für den kleinen baltischen Staat sein, da sei Artikel 5 des NATO-Vertrags vor. Dort wird der sogenannte Bündnisfall beschrieben, wonach der Angriff auf ein Mitgliedstaat ein Angriff auf alle ist. Obama kündigte unter anderem »zusätzliche US-Luftwaffeneinheiten« für die NATO-Luftüberwachungsmission Air Policing Baltikum an.
Vor dem Hintergrund der eskalierenden Ukraine-Krise, die zur schärfsten Konfrontation der Allianz mit Russland seit Ende des Kalten Krieges geführt hat, umriss der Präsident auf seiner ersten Reise ins Baltikum damit auch den entscheidenden Tagesordnungspunkt des NATO-Gipfels, der am Donnerstag im walisischen Newport beginnt - unter schärfsten Sicherheitsbedingungen. Fast 10 000 Polizisten aus ganz Großbritannien und gut 20 Kilometer Sicherheitszäune sollen die 28 Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten und viele weitere Politiker aus aller Herren Länder schützen. Auch vor den Friedensaktivisten, die schon am Wochenende in Newport demonstriert haben und jetzt auf einem Gegengipfel in Cardiff ihre Kritik am weltgrößten Kriegsbündnis formulieren.
NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner, das ist die Kernbotschaft der »Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit«, die beide Seiten 1997 unterzeichnet und so gleichsam das Ende des Ost-West-Konflikts noch einmal besiegelt hatten. Nicht nur Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves stellt wegen der »russischen Militärintervention in der Ostukraine« diese Vereinbarung nun in Frage.
Andere im Nordatlantikpakt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel wollen an den bestehenden Verträgen mit Moskau (noch) nicht rütteln. Doch einhellig ist die Meinung, das man militärische Pflöcke gegen Russland einrammen müsse. Kritische Selbstreflexion kommt in diesem Konzept nicht vor. Dabei hat sogar der ehemalige NATO-General Harald Kujat der Allianz gerade schwere Fehler im Umgang mit Russland in der Ukraine-Krise vorgeworfen. Nicht nur Moskau, auch der Westen habe sich in eine Sackgasse manövriert. Beide Seiten müssten miteinander reden, besonders in der jetzigen Situation.
»Zurück zu den Wurzeln, zurück zur gemeinsamen Verteidigung«, nämlich gegen den wieder auferstandenen Erzfeind - so verkauft man in der NATO die neue alte Strategie des Paktes. Man könnte aber auch von der offenen Rückkehr zur »Vorwärtsverteidigung« sprechen. Denn die seit Jahren andauernde Ostausdehnung der NATO Richtung Russland soll nun eine militärische »Speerspitze« bekommen.
Nicht nur mehr Jagdflugzeuge als bisher zur Kontrolle des Luftraums der drei baltischen Staaten, nicht nur mehr Manöver im Ostseeraum und im Schwarzen Meer - der »Aktionsplan« (Readiness Action Plan), der in Newport auf dem Tisch liegt, soll die NATO-Präsenz in Osteuropa dauerhaft verstärken und die Reaktionsfähigkeit dieser Truppen drastisch erhöhen. Was neue Stützpunkte an Russlands Grenzen in den baltischen Staaten, in Polen, in Rumänien samt Stationierung von Waffen, Munition, Fahrzeugen und Sprit ebenso erfordere wie die Modernisierung von Häfen und Flughäfen in der Region.
Eine neue bis zu mehrere tausend Soldaten starke Spezialtruppe (Very High Readiness Joint Task Force) soll die bestehende, aber noch nie eingesetzte 40 000 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe (Nato Response Force) ergänzen. Nur noch maximal zwei, drei Tage soll es dauern, bis die Verbände aus verschiedenen Bündnisstaaten bei einem bedrohten Partner einsatzbereit sind. Hinzu kommt noch eine »Kriseninterventionstruppe«, die sieben NATO-Staaten unter Führung Großbritanniens zusätzlich planen. Und es gibt ja ohnehin die Pläne für eine Raketenabwehr an Russlands Grenzen.
Nur - wer soll das alles bezahlen? So dürfte in Newport wohl mehr noch als die von den baltischen Mitgliedern, Polen und Kanada geforderte Aufkündigung der NATO-Russland-Akte die von der NATO-Spitze und Washington massiv geforderte Aufstockung der Militärausgaben in der Allianz umstritten sein. Derzeit entfallen davon auf die USA, die rund vier Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in Rüstung und Soldaten stecken, etwa 70 Prozent. Die große Mehrheit der europäischen Partner erreicht die angestrebten zwei Prozent des BIP nicht. Dabei gaben die NATO-Staaten schon 2013 etwa 1,023 Billionen US-Dollar für ihr Militär aus; Russland rund 88 Milliarden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.