Die Ecke der Zeit
Heute vor 100 Jahren wurde Ödön von Horváth geboren
Das Volk, so vermeldet uns die Geschichte, ist immer wieder ein starkes Stück. Volksstücke erzählen die Mildform dieser meist bösen Wahrheit. Ödön von Horváths Volksstücke sprengen Volk, sie porträtieren Auserwählte einer quälenden, auch perfiden Gewöhnlichkeit. Am Anfang haben die Menschen noch eine verzweifelt schöne, tapfer unschuldige Vorstellungskraft von sich selber, sehr schnell aber ist von dieser Vorstellungskraft nur noch Aushaltenskraft geblieben. Und ein Metzger, zum Beispiel, prophezeit der lieben guten Marianne, sie werde seiner Liebe nicht entgehen. So geht das mit der Liebe, und diese »Geschichten aus dem Wiener Wald« sind Geschichten aus der Mitte der Welt. Wo unter Schuttbergen geschäftigen Glückens das Leben erstickt. Nicht wahr, Kasimir und Karoline? Figaro, der du dich scheiden lässt? Horváths Horror.
Er hatte immer Angst vor allem, was »von oben« kam. Und am Abend des 1. Juni 1938, im Gewitter, stürzte der Ast der Kastanie mitten in Paris herab, erschlug ihn. Ein Tod, »eines Dichters würdig«, so Marie Luise Kaschnitz. Kurz vorher hatte Ödön von Horváth mit Walter Mehring im Café gesessen, ein Blitz schlug in die Kuppel des Panthéon ein - »das gilt mir«, soll der Schriftsteller kommentiert haben.
Legenden, die einen Tod begleiten, besitzen schaurig-wohlige Strahlung. Es sind die Schlingkräfte eines magischen Fluidums, das diesem merkwürdigen Sterben eines nicht mal 40-Jährigen eine Spannung aus höherer Fügung und blödem Zufall verleiht. Fortan wird von diesem Tod zurückgerechnet auf Horváths Werk, vor allem aufs dramatische; es wird begierig interpretiert als das eines abergläubischen »Metaphysikers«, und es steht in merkwürdiger Fremdheit zu jenem anderen Ödön von Horváth, dem erbarmungslos gesellschaftskritischen Schilderer von Welt und Wesen der Zwischenkriegsjahre. Je nach ideologischer Konjunktur spielt(e) der Zeitgeist den einen als den wahrhaft Bedeutenden gegen den anderen aus - den radikal mitleidlosen Entzauberer gegen den warmherzig Mitfühlenden, den Realisten der Verhältnisse gegen den Menschen voller religiöser Heilsgewissheiten.
Aber Horváth, der Erneuerer des Volksstücks, ist unteilbar. Just in den letzten Jahren entstanden aufregende Inszenierungen seiner Stücke (Langhoff, Breth, Kriegenburg, Kusej, Bauer), die das bekräftigen. Auch wo er Erlösungserwartungen seiner Gestalten verwirft und all seine Erzählung, all sein Drama illusionslos bleibt, schimmert durch die Negation doch immer auch das Negierte durch. Die Möglichkeit des anderen Lebens hat keine Chance, aber sie darf dennoch geträumt werden. Der Analytiker des verkitschten, falschen Bewusstseins - im Grunde hörte er nie auf, jene Sehnsüchte zu teilen, die in diesem realitätsfernen Bewusstsein nisten. Das Herz bleibt ein wummernder Klumpen von Entwürfen.
In einem Prosa-Entwurf scheint die Spannung definiert, die das Werk des 1901 bei Fiume (Budapest) Geborenen im ganzen bestimmt: »Er wollte nicht weit, gewissermaßen nur um die Ecke der Zeit, in die Tage der Kindheit, denn dort schien es ihm schön gewesen. Ja, der Garten der Kindheit hängt voller goldener Äpfel, aber das Gold ist nichts wert, denn man kann sie essen.« Rücksichtslos, teilnahmslos wie ein »Staatsanwalt mit hartem Herzen« (so ein Kritiker 1932) registriert Horváth die Konsequenzen dieses Sündenfalls, aus dem Paradies der Kindheit vertrieben worden zu sein. Aber noch die härteste Registratur verfälschter, verkitschter Gefühle bewahrt einen Abglanz ihrer ursprünglichen Wahrhaftigkeit.
Vieles wird noch klarer, schaut man sich Fotos von Horváth an, Sohn eines ungarischen Diplomaten, Philosophie-Student in München, erfolgreich als Dramatiker in Berlin, bis er vor Hitler floh: Er hat eines jener Gesichter, die, was sie auch ausdrücken, nicht den Ausweis eines inneren Exils verbergen können. Kindlich, weich, dieser Horváthmensch, früh schon von Alter und Trauer überschattet, von einer beinahe erlöst-romantisch hingenommenen Abgelebtheit vor der Zeit; Lebensfreude nimmt sich zurück in einen matten Schimmer. »Wer anders tut, als abgründig alt zu sein, ist ein modischer Stutzer. Er weiß nichts von der Welt.« Schreibt im August dieses Jahres Botho Strauß.
Foto: Um 1930, aus »Ödön von Horváth. Unendliche Dummheit - dumme Unendlichkeit«, hrsg. von Klaus Kastberg...
Er hatte immer Angst vor allem, was »von oben« kam. Und am Abend des 1. Juni 1938, im Gewitter, stürzte der Ast der Kastanie mitten in Paris herab, erschlug ihn. Ein Tod, »eines Dichters würdig«, so Marie Luise Kaschnitz. Kurz vorher hatte Ödön von Horváth mit Walter Mehring im Café gesessen, ein Blitz schlug in die Kuppel des Panthéon ein - »das gilt mir«, soll der Schriftsteller kommentiert haben.
Legenden, die einen Tod begleiten, besitzen schaurig-wohlige Strahlung. Es sind die Schlingkräfte eines magischen Fluidums, das diesem merkwürdigen Sterben eines nicht mal 40-Jährigen eine Spannung aus höherer Fügung und blödem Zufall verleiht. Fortan wird von diesem Tod zurückgerechnet auf Horváths Werk, vor allem aufs dramatische; es wird begierig interpretiert als das eines abergläubischen »Metaphysikers«, und es steht in merkwürdiger Fremdheit zu jenem anderen Ödön von Horváth, dem erbarmungslos gesellschaftskritischen Schilderer von Welt und Wesen der Zwischenkriegsjahre. Je nach ideologischer Konjunktur spielt(e) der Zeitgeist den einen als den wahrhaft Bedeutenden gegen den anderen aus - den radikal mitleidlosen Entzauberer gegen den warmherzig Mitfühlenden, den Realisten der Verhältnisse gegen den Menschen voller religiöser Heilsgewissheiten.
Aber Horváth, der Erneuerer des Volksstücks, ist unteilbar. Just in den letzten Jahren entstanden aufregende Inszenierungen seiner Stücke (Langhoff, Breth, Kriegenburg, Kusej, Bauer), die das bekräftigen. Auch wo er Erlösungserwartungen seiner Gestalten verwirft und all seine Erzählung, all sein Drama illusionslos bleibt, schimmert durch die Negation doch immer auch das Negierte durch. Die Möglichkeit des anderen Lebens hat keine Chance, aber sie darf dennoch geträumt werden. Der Analytiker des verkitschten, falschen Bewusstseins - im Grunde hörte er nie auf, jene Sehnsüchte zu teilen, die in diesem realitätsfernen Bewusstsein nisten. Das Herz bleibt ein wummernder Klumpen von Entwürfen.
In einem Prosa-Entwurf scheint die Spannung definiert, die das Werk des 1901 bei Fiume (Budapest) Geborenen im ganzen bestimmt: »Er wollte nicht weit, gewissermaßen nur um die Ecke der Zeit, in die Tage der Kindheit, denn dort schien es ihm schön gewesen. Ja, der Garten der Kindheit hängt voller goldener Äpfel, aber das Gold ist nichts wert, denn man kann sie essen.« Rücksichtslos, teilnahmslos wie ein »Staatsanwalt mit hartem Herzen« (so ein Kritiker 1932) registriert Horváth die Konsequenzen dieses Sündenfalls, aus dem Paradies der Kindheit vertrieben worden zu sein. Aber noch die härteste Registratur verfälschter, verkitschter Gefühle bewahrt einen Abglanz ihrer ursprünglichen Wahrhaftigkeit.
Vieles wird noch klarer, schaut man sich Fotos von Horváth an, Sohn eines ungarischen Diplomaten, Philosophie-Student in München, erfolgreich als Dramatiker in Berlin, bis er vor Hitler floh: Er hat eines jener Gesichter, die, was sie auch ausdrücken, nicht den Ausweis eines inneren Exils verbergen können. Kindlich, weich, dieser Horváthmensch, früh schon von Alter und Trauer überschattet, von einer beinahe erlöst-romantisch hingenommenen Abgelebtheit vor der Zeit; Lebensfreude nimmt sich zurück in einen matten Schimmer. »Wer anders tut, als abgründig alt zu sein, ist ein modischer Stutzer. Er weiß nichts von der Welt.« Schreibt im August dieses Jahres Botho Strauß.
Foto: Um 1930, aus »Ödön von Horváth. Unendliche Dummheit - dumme Unendlichkeit«, hrsg. von Klaus Kastberg...
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