Psychologie des Hungers

Lidia Ginsburg und ihre «Aufzeichnungen über die Leningrader Blockade

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Fast 900 Tage, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, dauerte die Belagerung und Abriegelung der Stadt Leningrad durch die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs. Es war eine für uns heute unvorstellbare Zeit des Leids, der täglichen Bedrohungen, Ängste und vor allem des Hungers für die eingeschlossene Bevölkerung.

Karl Schlögel weist im Nachwort auf den systematischen Vernichtungsplan der Deutschen hin, mit dem sie es geradezu darauf angelegt hatten, die eingekesselte Bevölkerung durch Hunger (die Dystrophie und das damit verbundene qualvolle allmähliche Sterben) auszulöschen. Zu den erst spät aufgetauchten und veröffentlichten Werken über die Vorgänge, »die uns sprachlos zurücklassen« (Karl Schlögel), gehören die »Aufzeichnungen eines Blockademenschen« der russisch-jüdischen Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Lidia Ginsburg (1902-1990). Die Datierungen dieser »Aufzeichnungen« - 1942, 1962, 1983 - weisen auf eine jahrzehntelange intensive Arbeit der Autorin am Text. Wer solches durchlebt und überlebt hat, ist lebenslang »gezeichnet«.

Außer den »Aufzeichnungen eines Blockademenschen« enthält der Band die schon früh, wahrscheinlich kurz nach den Ereignissen entstandene »Erzählung von Mitleid und Grausamkeit« (aus dem Nachlass), außerdem Texte und Notizen aus dem Umkreis der Blockadeberichte.

Die »Ausschnitte eines Blockadetages« am Schluss des Buches ziehen den Leser noch einmal, und nun ganz unmittelbar, in das tagtägliche Geschehen hinein. Dieses »Rennen in einem dumpfen Kreis« zwischen den schäbigen Mahlzeiten muss man sich um mehrere hundert Mal verlängertes »Erstarren« in einem elenden Martyrium vorstellen. Man kann es eigentlich nicht. Die Intensität macht die Texte darüber hinaus auch zu Zeugnissen der »Situation von Menschen im Ausnahmezustand überhaupt«. Besser als Karl Schlögel kann man das nicht formulieren.

Will man hier dennoch literarisch werten, dann kommt der »Erzählung von Mitleid und Grausamkeit« ein besonderer Stellenwert zu. Geschickt haben die Herausgeber, vielleicht auch die Übersetzerin, sie an den Anfang des Buches gestellt. Die Erzählung ist unmittelbare Dokumentation und zugleich eine sezierende psychologische Analyse eigenen Denkens und Handelns der Erzählerin. Lidia Ginsburg versucht, das Verhalten eines Menschen im Ausnahmezustand zu begreifen, zu bewältigen und eventuell zu rechtfertigen.

Andere Intellektuelle, unter ihnen auch Schostakowitsch, so erfährt man aus den Begleittexten, hatten sich während der Blockade evakuieren lassen. Lidia Ginsburg blieb, um ihre alte, kranke Mutter nicht allein zu lassen. Deren Hungersterben, das sie miterlebte, »überträgt« sie in der Erzählung auf das Verhältnis zwischen einem jungen Journalisten und seiner sterbenden Tante. Zu Trauer und Schmerz kommen Gedanken von Schuld und Reue.

In den »Aufzeichnungen« wird die Autorin über das Mitleiden mit dem Blockademenschen »N« hinaus zur Beobachterin vieler Details - im kalten Zimmer, im Büro, bei der Essensausgabe oder dem Wasserholen der Frauen aus der zugefrorenen Newa. Der Text ist zeitlich zweigeteilt. Nach dem Kältewinter bringt das Frühjahr (1942) mit leicht erhöhten Essenszuteilungen und ersten wärmenden Strahlen Hoffnung. auf ein Überleben.

Nicht nur aus Karl Schlögels kenntnisreichen, unverzichtbaren Informationen, sondern vor allem auch aus den literarischen Texten selbst geht hervor, dass die »Formalistin« Lidia Ginsburg, die mit literarischen Größen wie Viktor Schklowski, Juri Tynjanow, Wladimir Majakowski, Anna Achmatowa und den Mandelstams bekannt gewesen ist, sich in russischer und europäischer Geistesgeschichte von Tolstoi bis Freud bestens auskannte. Dass sie hier eine unüberhörbare Stimme erhält, ist nicht zuletzt ein wichtiger Aspekt des Buches. Auch ihr Leben und ihre Werke waren Opfer der Verwerfungen des Jahrhunderts der Grausamkeiten.

Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Karl Schlögel. Suhrkamp Verlag. 253 S., geb., 22,95 €.

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