Todsicher drin!

»Wembley-Tor« ist 40: Für England wars eins

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Nachdem England mal wieder nicht Fußball-Weltmeister geworden ist, hat sein einziger Titelgewinn 1966 noch größeres Gewicht in der nationalen Legendenlandschaft gewonnen. Und die Rechtmäßigkeit des so genannten Wembley-Tors im Endspiel vor 40 Jahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ist für Engländer noch unstrittiger.
Nicht dass es auf englischer Seite je ernstere Zweifel an diesem Tor vom 30. Juli 1966 gegeben hätte! Doch nach der titellosen Durststrecke, die für das Mutterland des Fußballs seit dem Sieg von Wembley anbrach, sind der Wert der damaligen Weltmeisterschaft und die Eindeutigkeit des dritten Tores beim 4:2 gegen die BRD für das Gleichgewicht der englischen Seele ins Unermessliche gewachsen. Beide sind für die Fans umso kostbarer, als England in den vergangenen vier Jahrzehnten herbe Niederlagen gegen (west-)deutsche Teams bezogen hat: bei den WM 1970 und 1990, bei der EM 1996, und sogar beim letzten Spiel im alten Wembley-Stadion im Oktober 2000. Kein Wunder daher, dass der 30. Juli 1966 heilig gesprochen und das dubiose Endspiel-Tor auf den Sockel der Unanfechtbarkeit gehoben wird.
Erinnern wir uns: Gastgeber England war auf dem Weg ins Endspiel Gruppensieger geworden, hatte im Viertelfinale Argentinien (1:0) und im Halbfinale Portugal (2:1) besiegt, während die BRD ihre Gruppe gewonnen und im Viertel- bzw. Halbfinale Uruguay (4:0) und die UdSSR (2:1) bezwungen hatte.
Dann stand vor 93 802 Zuschauern das Finale im Londoner Wembley-Stadion an, wo England auch seine Vorrunden-Spiele bestritten hatte. Nach 90 Minuten heißt es 2:2. In der Pause vor der Verlängerung machen sich Seeler, Beckenbauer, Weber und die anderen Mannen der Elf Helmut Schöns auf dem Rasen lang, ein Bild, das England-Manager Alf Ramsey mit einem psychologischen Nadelstich beantwortet: Er weist seine Spieler - unter ihnen Bobby und Jack Charlton, Geoff Hurst, Torwart Gordon Banks und Kapitän Bobby Moore - an, auf den Beinen zu bleiben.

Die 101. Minute
Dann die 101. Minute: Hurst nimmt eine Flanke von Nobby Stiles auf, lässt Verteidiger Schulz aussteigen und jagt den Ball an die Lattenunterkante. Von dort springt das Leder nach unten und - je nach Deutung - knapp hinter, knapp auf oder knapp vor die Torlinie, ehe Weber den Ball ins Aus köpft und mit Ecke für England rechnet. Hurst dagegen reißt die Arme zum Torjubel hoch, Schiedsrichter Dienst (Schweiz) geht zu Linienrichter Bachramow (UdSSR), der den Ball im Tor gesehen hat. Ein Jahrhundertstreit ist geboren.
40 Jahre später antwortet Sir Bobby Charlton auf die Frage, ob der Ball tatsächlich im westdeutschen Tor gewesen ist: »Der war todsicher drin!« In einem lesens- und ansehenswerten Buch, das soeben in England unter dem Titel »1966 Uncovered« erschienen ist, fügt Charlton hinzu: »Jedes Mal, wenn mich ein Deutscher nach dem Tor fragt, sage ich: "Wollen Sie unterstellen, sie hätten gegen uns gewonnen, wenn das Tor nicht drin gewesen wäre?" Kein einziger bejaht das.«
Wie man sieht, ist die Beweisführung eines so großen Spielers und Gentlemans wie Bobby Charlton in diesem Punkt so zwingend wie der Wahlslogan einer politischen Partei. Doch auch Franz Beckenbauer, der 1966 seine erste WM spielte, erklärte zur Frage aller Fragen, England habe in jenem Endspiel eine phantastische Mannschaft besessen und die deutsche Elf ihre Niederlage sportlich anerkannt. »Ich kann zum dritten englischen Tor nichts sagen - es ging ja alles so schnell ...«

Kein Bild 100-prozentig
Der österreichische Naturwissenschaftler Dr. Robert Hehenwarter, der sich vor Jahren international einen Namen machte mit Erfindungen zur Fußballanalyse und kreativen Konzepten für die damals innovative Fußballsendung ran!, erklärte jetzt auf Anfrage: »Natürlich haben wir uns mit unserer 3D-Technik das Wembley-Tor angeschaut. Unser Limit war die Pixel-Auflösung des (alten) 2D-Materials, weniger die 3D-Berechnungen. Die Pixelgröße hatte fast Ballgröße! Trotzdem haben wir es versucht. Bei uns war der Ball nicht drin.« Hehenwarter rät dennoch zur Vorsicht, und auch das Buch mit den vielen bisher unveröffentlichten 66er WM-Fotos bringt in dieser Hinsicht keine neue Gewissheit. Vielmehr stellen die Autoren klar: »Kein Bild und kein Film sind 100-prozentig.«
Gesichert, und natürlich auch im Buch zu besichtigen, ist der Gewinner, den es in jenem Finale und lange danach auch auf deutscher Seite gab: Helmut Haller hatte den Ball mit nach Hause genommen. Erst vor zehn Jahren, 30 Jahre nach dem Finale, musste er ihn nach einer Kampagne des Daily Mirror rausrücken. Seitdem ist das historische Leder in Besitz von Geoffrey Hurst, der drei der vier englische Wembley-Tore geschossen hatte. Oder nur zwei.

1966 Uncovered - The Unseen Story of the World Cup in England, Peter Robinson & Doug Cheeseman, Text by Harry Pearson; Verlag Mitc...

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